Archive for Dezember, 2009

Und damit ist hier auch erstmal Ruhe! Frohes Fest gefälligst! 😉 Lest ein paar gute Comics (ein Klick auf den Amazon-Link gleich rechts mag nicht schaden), und Bücher sowieso.

Pflichtschuldig angemerkt sei, dass auch dieser Text für die Leipziger Comic Combo geschrieben wurde, dort aber noch nicht online gegangen ist.

Derrien/ Fourquemin
Miss Endicott

Miss EndicottDie viktorianische Ära findet im Comic meist nur in romantisch verklärter Form statt. Große Ausnahme bildet hier das sowieso in jeder Hinsicht (Achtung! Wortspiel!) ausnehmende „From Hell“ von Alan Moore und Eddie Campbell mit seinem grimmigen Realismus. Natürlich nicht auf diesem Level, aber immerhin konnte Xavier Fourquemins Fantasy-Story „Die Legende vom Changeling“ im vergangenen Jahr damit punkten, bei der Darstellung des viktorianischen London zumindest einen Hauch Realismus in die Geschichte über Gnome und weißbärtige Magier eingeflossen zu lassen haben.

Gleicher Zeichner, gleiche Ära, gleicher Ort: „Miss Endicott“. die Geschichte einer sogenannten Schlichterin, die den Job von ihrer verstorbenen Mutter übernimmt und vor allem Nachts an den Behörden vorbei inkognito für Ruhe in London sorgen soll. Weil das keine Frau ernährt, übernimmt sie tagsüber eine Tätigkeit als Gouvernante. Eine Superhelden-Geschichte also (ähnlich dem jüngst erschienenen „Tanatos“) in franko-belgischem Gewand, mit Geheimidentität und nächtlichen Rettungsmissionen, mit einem Superschurken, einer irren Maschine zur Welteroberung oder -vernichtung und Totgeglaubten, die nicht tot sind.

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Ebenfalls bei der Comic Combo derzeit noch unveröffentlicht (aber im Manuskript schon drei Wochen alt) – die Review zur Mick Tanguy-Gesamtausgabe bei Ehapa. Und ich muß zugeben: so launig der erste Band auf eine etwas verquere und anstrengende Art war, so wenig Lust habe ich derzeit auf den zweiten Band. Ich werde im Leben kein wirklicher Fan von Charlier mehr, scheint mir.

Ach ja: Eintrag #400 in diesem Blog. 🙂

Jean Michel Charlier/ Albert Uderzo
Die Abenteuer von Tanguy und Laverdure – Gesamtausgabe
Band 1 – Die Schule der Adler

Mick TanguyDer gewaltige Schatten von „Asterix“ verdeckt die übrigen Comics von Zeichner Albert Uderzo nahezu völlig. Darunter auch die Serie „Tanguy und Laverdure“ die schon deshalb Beachtung verdient, weil sie zu den wenigen realistischen Comics im Oeuvre des Funny-Zeichners Uderzo gehört. Ab 1959 entstanden diese Erlebnisse zweier Piloten, passend natürlich zum Namen des Magazins ebenfalls in „Pilote“ veröffentlicht, zeitlich parallel zu „Asterix“ und der Indianerserie „Umpah-pah“, ebenfalls von Uderzo. Damit hatte der Zeichner zeitweise fünf vollständig ausgearbeitete großformatige Comicseiten pro Woche abzuliefern und musste Abstriche machen, um dieses gewaltige Pensum zu schaffen.

Überraschenderweise war ausgerechnet „Asterix“ Opfer dieser Selbstbeschränkung. Vergleicht man „Tanguy und Laverdure“ mit den gleichzeitig erschienen „Asterix“-Seiten, wird die Bevorzugung der Fliegerserie offenbar. (Sogar der relativ erfolglose „Umpah-pah“ war ihm damals offenbar lieber als „Asterix“.) Die frühen „Asterix“-Seiten sind häufig routiniert, aber detailarm. Dagegen strotzen die Erzählungen von der Ausbildung des Meisterflieges Michel Tanguy und seines etwas trotteligen Kompagnons Laverdure (der deutlich Oliver Hardy nachempfunden ist) von Beginn an von voll Saft und Kraft.

Ganz klar dabei im Vordergrund: auf- und niedergehende, rasende, schwebende, schlitternde, explodierende, ja überhaupt Flugzeuge, Flugzeuge, Flugzeuge. Uderzos Technikbegeisterung – er recherchierte damals für diese Serie mit Inbrunst auf Militärflughäfen – paart sich mit Einflüssen klassischer amerikanischen Comicstrips wie Milton Caniffs „Terry and the Pirates“ oder Roy Cranes „Buzz Sawyer“, die bereits während des Zweiten Weltkriegs das Sujet der Flieger- und Militärabenteuer ausloteten, und von denen der Franzose vieles in Stil, Schnitt und Darstellung übernahm. Unter den Bedingungen der ausklingenden sechziger Jahre in Frankreich war „Tanguy und Laverdure“ ein optisch hochmoderner Comic auf der Spitze des Zeitgeistes und der grafischen Erzählmethoden.

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Hatten wir natürlich schon, hier aber nochmal in voller Pracht. Neben den Comicseiten des Tagesspiegel entstand dieser Text für die Leipziger Comic Combo, wo er aber noch nicht veröffentlicht wurde.

Osamu Tezuka
Kirihito

Ein Arzt gegen die Welt: der junge Doktor Kirihito wird ausgesandt, um das Rätsel einer geheimnisvollen Krankheit zu lösen, die Menschen in hundeähnliche Geschöpfe verwandelt. Ein kleines Japanisches Dorf ist die Quelle allen Übels. Von dort aus allerdings beginnt er, inzwischen selbst infiziert, eine Odyssee um die halbe Welt. Überall hin, nur nicht zurück – denn in der Heimat hat ihn sein ehemaliger Chef zur Persona non Grata erklärt, weil ihm aus Karrieregründen Kirihitos Forschungsergebnisse nicht behagen.

Um zu verstehen, was das Besondere an „Kirihito“ ist, hilft es, die Hintergründe zu kennen: unter dem Schlagwort „Gekiga“ etablierte sich ab den Fünfzigerjahren vornehmlich in der japanischen Provinz ein Comicstil, der einen erwachseneren und realistischeren Ansatz für Mangas suchte,. Beeinflußt von den Filmen der Schwarzen Serie, den Romanen von Dashiell Hammett, Mickey Spillane und ähnlichen Autoren, waren ihre Comics düster, ruppig und expressiv.

Der Medizin-Thriller „Kirihito“, ab 1970 publiziert, ist die Reaktion des damals überaus erfolgreichen Tezuka auf die jungen Wilden aus der Provinz. Gleichzeitig markiert die umfangreiche Erzählung (800 Seiten) einen Bruch in Tezukas Werk, weg von den bis dahin dominierenden eskapistischen Science-Fiction- und Fantasy-Geschichten (nennenswert hier vor allem „Astro Boy“), hin zu realistischeren Themen. Für den 42jährigen Tezuka ein Neuanfang.

Darum merkt man, dass Tezuka in dem Metier noch nicht ganz zuhause ist. Wie seine Gekiga-Kollegen zitiert er zwar wild und hemmungslos aus aktuellen Filmen und Klassikern(sofort erkennbar: „Tanz der Vampire“, „The Prisoner“, weniger offensichtlich: „Panzerkreuzer Potjemkin“), baut ein paar verblüffend eindeutige und radikale Sexszenen ein und verschlüsselt das Geschehen teilweise in atemberaubend expressionistische Einzelbilder. (Unfassbar hirnzermatschend: Kirihitos Verwandlungsprozeß zum Hund.) Trotzdem bleibt die Handlung immer ein wenig vorhersehbar, letztlich den Konventionen eines einfachen Abenteuerstoffes verhaftet, wie Tezuka sie vorher produziert hatte. Von der Komplexität der späteren Meisterwerke „Buddha“ und „Adolf“ ist diese Erzählung mit ihrem simplen Schwarz-weiß-Moralschema noch deutlich entfernt.

In Deutschland markiert dieser Comic den zweiten Anlauf (nach „Adolf“, ebenfalls bei Carlsen) zu einer ernstzunehmenden Tezuka-Rezeption. Unter diesem Aspekt ist es völlig egal, was von ihm erscheint, solange dieser große Comickünstler, auf einem Niveau mit Carl Barks und Franquin, hierzulande endlich halbwegs die Aufmerksamkeit bekommt, die ihm zusteht. Selbst ein mittelmäßiger Tezuka (so wie „Kirihito“) ist noch besser als die meisten Comics. (stefan pannor)

Carlsen Comics, 288 S.; €16,90

Der Crumb-Anteil aus meinem WELT-Text, leicht bearbeitet. In dieser Version dann hier publiziert.

Robert Crumb
Genesis

„Ich, R. Crumb, Illustrator dieses Buches, versichere hiermit, dass ich den Urtext der Bibel nach bestem Wissen und Gewissen wiedergegeben habe“, leitet der amerikanische Zeichner seinen voluminösen Band „Genesis“ ein. In der Tat ist alles da: von den zwei Schöpfungsgeschichten und Adam und Eva über Noah, Abraham bis schließlich zum Tod Josephs. Satz für Satz, ohne Auslassungen, hat Crumb graphisch umgesetzt.

Aber von den gefälligen, mitunter peinlichen Comicadaptionen des Buchs der Bücher (man denke nur an die in ihrer Umsetzung unwürdige „Manga-Bibel“) ist er weit weg. Sein „Genesis“ ist bewußt sperrig. Nein, sagt der überzeugte Atheist Crumb ebenfalls im Vorwort, er glaube nicht daran, dass die Bibel Gottes Wort enthält. Sie sei eine Ansammlung deutlich älterer Geschichten, zusammengezimmert aus Machtmotiven. Beim Wort genommen, soll sie genau das offenbaren.

Der bilderstürmerische Ansatz passt zu dem Zeichner, der von je her gewohnte Sichtweisen umgestoßen hat. In den Sechzigerjahren prägten Crumbs Comics die Bildsprache der Hippie- und Gegenkultur der USA. Seit den Neunzigerjahren lebt der einstige amerikanische Zeichenstift-Revoluzzer in einem Dorf in Nordfrankreich, dessen Namen er geheim hält, um Wallfahrten von Fans zu verhindern. Comics hat er seitdem kaum noch gemacht. Statt dessen immer wieder Skizzenbücher veröffentlicht, die zeigten, wie sich sein einstiger wabbelig-lakonischer Stil zusehends verfeinerte und verfestigte.

Mit „Genesis“ hat er das grafische Versprechen eingelöst, das diese Skizzenbücher gaben. Unzählige fein ziselierte Schraffuren verleihen den Bildern Tiefe und Substanz. Die tausenden feinen Striche erzeugen ein nervöses Flackern, die vielen dunklen Flächen laden die Bilder alptraumhaft auf. Nie zuvor war die Schöpfung apokalyptischer.

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Einen fröhlichen vierten Advent – mit einem Klassiker der Comics, besprochen vor kurzem hier.

Maurice Tillieux
Jeff Jordan Gesamtausgabe 1

Männer ohne Eigenschaften gibt es im frankobelgischen Comic genug. Weder Tim noch Spirou etwa kann man tiefergehende Charakterzüge nachweisen. Sie funktionieren als Helden über ihr Tun, als Träger der Handlung, nicht als Träger von Gedanken.

Auf den ersten Blick unterschiedet auch Jeff Jordan sich nicht groß von denen. Ein junger, überaus dynamischer Privatdetektiv, mit abgeschlossenem Jurastudium und einem Sinn für Geschäftsmöglichkeiten im Bereich der Verbrechensbekämpfung. Viel mehr ist kaum über ihn bekannt..

Zudem sind seine Abenteuer oberflächlich gesehen Massenware. Inhaltlich unterscheiden sich die sechzehn von Maurice Tillieux geschriebenen und größtenteils auch gezeichneten Geschichten, die sich allesamt um das Fangen eher harmloser Gauner drehen, nicht von anderen vergleichbaren Serien ihrer Zeit, der Fünfziger- und Sechzigerjahre, als die Kinder- und Jugendcomics in Frankreich in Magazinen wie „Spirou“ und „Tintin“, später auch in „Pilote“ ihre hohe Zeit hatten. Die Plots und Handlungsverwicklungen sind selten überraschend, die Auflösungen immer den Maßregeln der Redaktion nach gewaltfrei und unblutig und gelegentlich haarsträubend konstruiert. Jordan wird begleitet von dem etwas tüdeligen Bullen und dem Gauner mit dem goldenen Herz. Das kennt man ja.

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Ein Text für das Online-Portal der Deutschen Welle über die Neuausgabe des Moga-Mobo-Büchleins 100 Meisterwerke der Weltliteratur.

Das ist der Teaser:

Klassikerverdichtung

In nur acht Bildern erzählen 100 Künstler je einen Klassiker der Weltliteratur nach. Aufsehenerregend, skurril und manchmal unverständlich spielen sie mit der Allgemeinbildung der Leser.

Kennen Sie Literatur? Also, was ist das: Ein Playmobil-Männchen bekommt von einem General einen überaus verwirrenden Plan vorgelegt, der sich irgendwie um Jesus, Luther und Laotse dreht. Dann ist Krieg, und das Lego-Männlein tanzt in die Nacht.

Nun?

Es handelt sich um eine Comicadaption von Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“. Extrem eingedampft: mehr als zweitausend Seiten umfasst das Werk im Original, gerade einmal acht Bilder hat der von dem Hamburger Grafiker Calle Claus gestaltete Comic. Kein einziges gesprochenes Wort fällt.

Und weiter geht es bei der Deutschen Welle.

Da hatte mich selbst Johann Ulrich, Betreiber des empfehlenswerten Avant-Verlages, vorgewarnt. Er wisse nicht so recht, was das ganze solle, hat er mir auf der Leipziger Buchmesse erzählt. Er muss es wissen: er hat die wichtigsten Sfar-Titel im eigenen programm. Und natürlich kann man ihm da zustimmen. Der kleine Prinz von Sfar ist, vor allem auf den ersten Blick, aufgrund seiner erzählerischen wie graphischen Nähe zum Original, ein recht redundantes Buch. Es ist das erste Buch, bei dem selbst ich als eingefleischter Sfar-Fan skeptisch geschaut habe – weil es zwischen all den so originellen wie originären Stoffen des derzeitigen französischen Comicgroßmeisters so unscheinbar aufgegossen wirkt.

Andererseits sagt es viel über den Status aus, den ein eigenwilliger Erzähler wie Sfar inzwischen in Frankreich hat: er kann machen, was er will. Auch Bücher, deren Sinn sich nicht sofort erschließt. Das Ergebnis war in diesem Fall einer der bestverkaufen französischen Comics des vergangenen Jahres. Und wenn so ein Bestseller die Aufmerksamkeit auf andere Sfar-Titel zieht (namentlich das wunderbare Klezmer und die sowieso göttliche Katze des Rabbiners), dann wäre es bereits ein gutes Werk. Was es darüber hinaus noch ist, steht in dieser Rezension.

Bei der Leipziger Comic Combo fand sich der Text hier.

Joann Sfar
Der kleine Prinz

Wie nähert man sich einem Buch, dessen Inhalt sich mittlerweile zum Klischee verselbständigt hat? Schließlich ist de Saint-Exupérys „Der kleine Prinz“, erstmals veröffentlicht 1942, so etwas wie das ultimative Geschenkbuch für alle leicht realitätsüberdrüssigen Abiturienten und Studenten. Sprichwörtlich gewordenen Aussagen wie „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche bleibt für das Auge unsichtbar“ haftet eine kitschige Süsse an.

Auf den ersten Blick scheint es, Sfar habe sich mit seiner Comicadaption dieses, nun ja, Klassikers fast ebenso naiv genähert, wie das Buch selbst es ist. Denn oberflächlich ist diese eine fast originalgetreue Umsetzung des Textes. Punkt für Punkt folgt Sfar jener Erzählung eines Piloten, der in der Wüste dem kleinen Prinzen begegnet, der ihm von fernen Planeten erzählt.

Aber bei genauem Hinsehen werden die Unterschiede offenbar. De Saint-Exupérys von ihm selbst illustriertes Werk ist durchgängig in einem märchenhaften Stil gehalten. Sfars Werk dagegen zerfällt in zwei Ebenen. Die extremen Bedingungen in der Wüste, den Flieger und sein Flugzeug schildert er überaus realistisch. Da ist viel Schweiss und Erschöpfung, schließlich Verzweiflung im Gesicht des Piloten, wenn er nervös an seiner Zigarette zieht und festhält, dass er bald verdurstet.

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Heute gleich noch eine Albenrezi (bzw. sogar zwei davon). Dass sich Alben bei meinen Rezensionen so häufen, spiegelt durchaus den Markt wieder, der sich in den letzten zwei Jahren verblüffend gewandelt hat. Wobei man diese Wandlung kritisch sehen sollte: während einerseits die Zahl der Neuerscheinungen frankobelgischer Alben signifikant zugenommen hat (ich vermute mindestens eine Verdreifachung), geht dieser Trend andererseits zu einem ganz starken Teil auf kleine und mittelgroße Verlage zurück, die völlig anders kalkulieren als große Verlage – mit weniger Betriebskosten und demnach auch mit kleineren Auflagen, um den Gewinnpunkt zu erreichen.

Es sind also in der Tat wieder mehr Alben-Comics geworden, die in Deutschland erscheinen – man sollte deshalb allerdings nicht annehmen, dass die Käuferschaft größer geworden ist. Sehr viel eher hat sich in einem inzwischen jahrzentelangen Ausleseprozeß eine kleine Zielgruppe extrem kaufkräftiger Kunden heraus kristallisiert (Comics sind nun einmal meist teuer, so daß weniger gut betuchte Leser irgendwann als Käufer abspringen müssen), die das Rückgrat für diese Albenproduktion bilden und die jedes Album zu fast jedem Preis kaufen.

Sollte dies der Fall sein, tanzen die Albenverlage auf einem dünnen Eis – bereits das Wegbrechen einiger weniger Kunden könnte signifikante Umsatzeinbußen zur Folge haben.

U.a. aus diesem Grund zielen Verlage wie Splitter den Buchhandel an – u.a. mit handlichen und voluminösen Titeln wie India Dreams und Paradise. (Womit der Bogen zum heutigen Adventskalender-Türchen geschlagen wäre. Der Text enstand natürlich für die Leipziger Comic Combo.)

(Mehr zur Situation des deutschen Comicmarktes hier.)

Benoit Sokal/ Brice Bingono
Paradise

&

Maryse & Jean-Fracois Charles
India Dreams

Der Tiger starrt die Europäerin durch die Gitterstäbe an, erst traurig, dann zähnefletschend.Ann Smith ist in Afrika gestrandet, seit ihr Flugzeug abstürzte, weiss sie selbst nicht mehr, was sie auf dem Kontinent will. Der gefangene Tiger und die entwurzelte Ann unternehmen eine Odyssee, die der jungen Frau helfen soll, zu sich selbst zu finden.

„Paradise“ von Benoit Sokal und Brice Bingono schildert ein völlig ausser Kontrolle geratenes Afrika, in dem Despoten herrschen und Putschisten diese zu stürzen versuchen, in dem wenig unglaublicher Reichtum und viel unfassliche Armut, eine ganze Menge Chaos und Platz für jede Gefahr ist.

Leider gelingt es ihnen nicht, aus diesem vertrauten Ansatz einen spannenden Comic zu machen. Benoit Sokal, hierzulande grade noch so einer Gruppe Eingeweihter als Autor und Zeichner des Krimi-Comics „Inspektor Canardo“ bekannt (dt. bei Schreiber & Leser), hat „Paradise“ von seinem eigenen PC-Game gleichen Namens adaptiert – dies aber offenbar lieblos. Die Dialoge sind nüchtern und funktional, lassen Sokals geschliffenen Sarkasmus vermissen, der Handlungsverlauf träge und von Klischees bestimmt.

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Tanatos, auf den in wenigen Tagen noch einmal zurück zu kommen sein wird, stellt eine der selten gewordenen Formen von Prä-Superhelden-Pulp im europäischen Comic dar (vermutlich auch, weil es aus hiesiger Sicht eines der randständigsten überhaupt nur denkbaren Genres ist). Auf perverse Art faszinierend die Leseerfahrung: wie kann ein Erzähler (bzw. ein Erzählerteam) einen so guten Ansatz nur so grandios versaubeuteln mit einem menschlich wie politisch absolut inakzeptablem, kriegsverharmlosendem Schluß?

Der Text stand natürlich zuallererst bei der Comic Combo Leipzig.

Didier Convard/ Jean-Yves Delitte
Tanatos 1 – Der Sohn des Todes

Heute ist kaum noch bekannt, das Frankreich um 1900 Herkunftsland einer überaus modernen Unterhaltungsliteratur war, die ihrer Zeit weit voraus war, Prinzipien des Pulp vorweg nahm, und deren Inhalte und Strukturen maßgeblich mithalfen, den Boden für die spätere französische Comickultur zu bereiten.

Zu den auch heute noch bekannten Figuren, die damals die unterhaltungsliterarische Szene bevölkerten, zählt der Superverbrecher Fantomas, der seine Verbrechen hauptsächlich in über dreissig wie am Fließband heraus gehauenen Romanen von 1911 bis 1913 erlebte. Die Autoren Souvestre und Allain nahmen mit dessen Typus des soziopathischen Großverbrechers, der sich über sämtliche moralischen Schranken ohne Bedenken hinweg setzt, sinnbildlich das Ende der bürgerlichen Vorkriegsgesellschaft vorweg, wie es dann mit dem Ersten Weltkrieg eintrat.

An diesem Punkt setzt „Tanatos“ ein, dessen Handlung in den Jahren 1913 und 1914 angesiedelt ist. Die Comicreihe ist fraglos eine Hommage an „Fantomas“. Hier wie dort ist es ein kriminelles Genie, eben jener Tanatos, der sich durch Intrigen, Dutzende Masken und fantastische Erfindungen als verderbtes Element tief in die Gesellschaft hinein gefressen hat und unerkannt mit Politikern, Polizisten und Industriellen verkehrt. Convard und Delitte drehen die Schraube dabei ein Stück weiter: Ziel ihres Tanatos ist die Auslösung eines weltweiten Krieges, sowohl aus psychopathischem Sportsgeist wie auch aus pekuniären Interessen – er besitzt selbstverständlich Anteile am Waffengeschäft.

Die Autoren des originalen „Fantomas“ waren vor dem Krieg immer zurückgeschreckt. Ihre Geschichte endet 1913, auch wenn in den Jahren nach dem Krieg noch neue „Fantomas“-Romane erschienen. Deshalb kann man den „Tanatos“ (benannt nach dem griechischen Gott des Todes) interessant finden – er geht den Schritt, den die damaligen Autoren nicht wagten. Vordergründig ist demnach der Plot des Buches recht komplex. Die Erzähler binden unzählige reale historische Ereignisse ein und verweisen neben „Fantomas“ in diversen Zitate und Anspielungen noch auf andere französische Pulp-Klassiker.

Das ist freilich vorhersehbarer als spannend, zumal sich Convard und Delitte bemühen, bis hin zur Flucht des Schurken in allerletzter Sekunde jede Konvention des Genres getreu zu erfüllen. Darum befriedigt es kaum, wenn zum Finale hin Maske um Maske des Superverbrechers fällt und der kriegstreibende Plot in Gang tritt. Es ist zu simpel: natürlich steckt hinter jedem politischen Ereignis jener Jahre, vom Attentat auf Erzherzog Franz Ferdinand bis zu dem auf den bekannten französischen Politiker Jean Jaurès, der Schurke Tanatos, der – und hier werden die Autoren sehr eindeutig – allein verantwortlich für den Ersten Weltkrieg ist. Das ist plumpe Geschichtsklitterung, die nichts mehr von dem genialen Frühwarnsystem jener Romane an sich hat, auf den sich dieser Comic bezieht, und in seiner reißbretthaften Art auch nichts von der wilden Energie der Unterhaltungsliteratur jener Jahre. Dass Convard und Delitte gar nicht verstanden haben, worum es geht, muss leider befürchtet werden. (stefan pannor)

Ehapa Comic Collection, 112 S.; € 29,95

Derzeit gibt es im Osten wieder einmal ein paar faszinierende Comicpflanzen, die sachte aufblühen und über die bei anderer Gelegenheit dringend zu reden wäre (von wegen „vor der eigenen Haustür“ und so). Heute im Rahmen der täglichen Comicrezi allerdings erst mal zwei Dresdener mit ihren Produktionen. Mamei und Ivo Kircheis sind mit ihren Produktionen unter dem Kampfnamen Beatcomix unterwegs, der wöchentliche Comicstrip von Ivo Kircheis heisst Paralleluniversum.

Und die Erstveröffentlichung des unten stehenden Textes fand hier statt. Bei der Leipziger Comic Combo – wo sonst? 😉

Ivo Kircheis
Paralleluniversum

&

Mamei & Ivo Kircheis
Dave Grigger

Derzeit wächst um Dresden eine beachtenswerte kleine Comicszene heran. Nennenswert ist hier vor allem die Comicbrigade Dresden bzw. Beatcomix, wie sie sich inzwischen nennen, mit den beiden Aushängeschildern Ivo Kircheis und Marian Meinhardt-Schönfeld alias Mamei vorneweg. Integral in dieser kleinen Szene ist auch der Holzhof-Verlag, bisher vor allem bekannt für seine Ausgrabungen von (zum Teil zu Recht und zum Teil zu Unrecht) vergessener DDR-Comics. Bei ihm erscheinen die Beatcomix-Bücher.

Bereits zwei Bände der Reihe „Paralleluniversum“ liegen vor. Seit 2006 zeichnet Kircheis den gleichnamigen Comicstrip online. Da der Strip nur gefühlt täglich erscheint und inzwischen auch schon mal länger pausiert, decken die ersten zwei Bände zwei komplette Jahrgänge bzw. 351 Strips ab. In seinen pointierten Strips schildert Kircheis abwechselnd seinen Alltag mit Frau und Kind und parallel dazu seine surrealen Phantasien um fliegende Kühe, sprechende Würste und Zipfelmännlein. Beide Erzählwelten bilden längere Erzählstränge und vermischen sich auch regelmäßig, was zu verblüffend bizarren Erzählsituationen führt. Gleichzeitig hat Kircheis damit eine verblüffend wirksame Methode gefunden, sich jederzeit aus einer Erzählsituation herauszuwinden, wenn ein Plot zu verwickelt oder abstrus wird: er schiebt ihn einfach als Phantasie des fiktiven Paralleluniversums ab.

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