Dank ihres Talents entkam sie dem Tod: Weil Dina Babbitt Schneewittchen besonders hübsch zeichnete, erkor SS-Arzt Mengele die Jüdin, Porträts seiner Opfer zu malen. Stan Lee, Joe Kubert und Neal Adams widmen ihrer Geschichte einen Comic – der ihr helfen soll, alle Bilder aus der KZ-Zeit zurückzuerhalten.

Drei der großen alten Männer des amerikanischen Comic haben sich zusammen getan, um einer Holocaust-Überlebenden zu helfen.

In einem sechsseitigen Comic erzählen Stan Lee, Erfinder von Spider-Man und unzähliger weiterer Marvel-Comichelden, Neal Adams, der in den sechziger Jahren dem Superhelden-Comic seinen modernen realistischen Look gab und Joe Kubert, seit den 40er Jahren in nahezu allen Comicgenres aktiv, die Geschichte von Dina Gottliebova Babbitt, die ihr Leben und das ihrer Mutter im KZ Auschwitz einzig mit dem Zeichenpinsel rettete.

Adams erledigte dabei die Vorzeichnungen des sechsseitigen Comic, Kubert die Reinzeichnung der Episode. Stan Lee verfasste eine Einleitung dazu. Der sechsseitige Comic bringt den Künstlern keinerlei finanziellen Gewinn – er steht u.a. zum freien Download in englischer Sprache verfügbar.

Was Adams und Kubert als Zeichner des kurzen Werkes erzählen, klingt wie eine Geschichte aus einem sehr dunklen Märchen. Im Herbst 1943 wurde die 21jährige Prager Jüdin Dina Gottliebova gemeinsam mit ihrer Mutter nach Auschwitz deportiert. Zu diesem Zeitpunkt hatten die Frauen bereits zwei Jahre im sogenannten „Transitlager“ Theresienstadt hinter sich.

In Auschwitz fiel Gottliebova Mengele auf, nachdem sie in einer der Kinderbarracken (in die die Nazis jene Kinder einpferchten, die sie als „nicht arbeitsfähig“ einstuften) mit geschmuggelten Farben heimlich ein Bild von Schneewittchen und den sieben Zwergen gemalt hatte.

Das Bild basierte auf Disneys Zeichentrick-Film. Mengele suchte zu dieser Zeit nach einer Künstlerin für Portraits seiner Opfer – die schwarz-weissen Fotos waren ihm nicht realistisch genug.

Unter der Bedingung, dass sie und ihre Mutter von der Vergasung ausgenommen werden würden, malte Dina Gottliebova über ein Jahr lang – bis zu einem der berüchtigten Todesmärsche 1945 – Bilder von Mengeles grausamen Experimenten und Opfern sowie gelegentlich auch von Angehörigen der Lagerwachen. Nach der Befreiung durch die Sowjetarmee ging Dina Gottliebova in die Vereinigten Staaten und wurde Animatorin bei Warner Brothers.

Sieben ihrer Bilder hängen heute in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau. Das Museum erwarb diese Bilder von zwei verschiedenen Verkäufern in den sechziger und siebziger Jahren. Die übrigen Bilder gelten als verschollen. Diese sieben Bilder möchte Dina Gottliebova, die heute als Dina Babbitt in Kalifornien lebt, zurück haben.

Schon seit einigen Jahren schwelt der Streit um die Portraits. Bei einem Besuch in der Gedenkstätte im Jahr 1973 identifizierte Dina Babbitt die sieben Bilder zweifelsfrei als ihre eigenen. Ihrem Wunsch, die Bilder von dort mitzunehmen, entsprach die Gedenkstätte allerdings nicht.

Entsprechend ist der im Herbst 2008 der Öffentlichkeit präsentierte Comic der drei Altmeister nicht der erste Versuch, Aufmerksamkeit auf die Bilder zu ziehen. 2003 beschäftigte sich der amerikanische Kongress mit Babbitts Fall. 2006 gab es eine Petition an die Gedenkstätte Auschwitz, Babbitt die Bilder zurück zugeben. Sie wurde von über 400 Künstlern unterzeichnet. Organisator war Rafael Medoff. Medoff vertritt Dina Babbitt bei ihrem Streit um die Bilder.

Anlässlich dieser Petition trat Rafael Medoff auch an Neal Adams heran. „Medoff hatte ursprünglich gehofft, dass ich mich zu den ‚Creators Rights‘ äußern könnte“, erinnert sich Neal Adams. Der Zeichner ist in den USA für sein Eintreten für die Rechte von Künstlern am eigenem Werk bekannt. Dass die „Superman“-Schöpfer Joe Siegel und Jerry Shuster nach Jahrzehnten der Ignoranz Ende der 80er Jahre Anerkennung und ein finanzielles Gnadenbrot von DC Comics zugestanden bekamen, ist massiv auf ihn zurück zuführen.

Medoff sandte Adams einen kurzen Abriss der Geschichte von Dina Babbitt. „Ich las das Schreiben und dachte, das sieht aus wie ein Comicskript“, schildert der Zeichner seinen Eindruck. Ab da war der Weg zum fertigen Comic kurz. Adams kontaktierte Medoff, schilderte ihm seinen Eindruck, worauf Medoff erwidert haben soll: „Warum machen wir dann keinen Comic daraus?“

Neben Comicbildern sind in der Geschichte auch fünf der sieben verbliebenen Portraits zu sehen. Es handelt sich dabei um Reproduktionen der Original-Gemälde aus dem Museum. In einer weiteren Sequenz ist Dina Gottliebovas Schneewittchen-Bild zu sehen. Dieses Bild wurde von der heute 85jährigen aus der Erinnerung heraus für den Comic neu gemalt und in Adams Artwork eingefügt.

Bereits seit vielen Jahren erscheint in Nordamerika ein konstanter Strom von Comics über den Holocaust. 1986 und 1992 Art Spiegelmans zweibändiges „Maus“, in dem der Zeichner die Erinnerungen seines Vaters grafisch umsetzt. Auch Wladek Spiegelman hatte Auschwitz überlebt. 2003 Joe Kuberts Comicerzählung „Yossel: April 19, 1943“ über den Aufstand im Warschauer Getto. 2006 erschien Miriam Katins Erinnerungsbuch „We are on our own“ (dt. „Allein unter allen“), in dem sie die Geschichte der Flucht gemeinsam mit ihrer Mutter vor den Nazis im besetzten Ungarn schildert.

Und im Sommer 2008 veröffentlichte der Kanadier Dave Sim unter dem provokanten Titel „Judenhass“ eine englischsprachige Comickollage, die einen historischen Abriss des europäischen Antisemitismus bis zum Gipfelpunkt des Holocaust darstellt.

Die Künstler sind sich dabei der Tradition bewusst, in der sie arbeiten. Insbesondere in den USA ist der Einfluss jüdischer Künstler auf den Comic eminent. Die ersten Superhelden entstanden als deren Reaktion auf die eigene Hilflosigkeit angesichts der Judenverfolgung in Europa, so etwa Superman von Jerry Siegel und Joe Shuster oder Captain America von Joe Simon und Jack Kirby.

Legendär jene Szene, in der Captain America Adolf Hitler mit der Faus zu Boden schickt. Und in den Nachkriegsjahren erfanden Stan Lee und Jack Kirby viele der sogenannten „gebrochenen Helden“ des Marvel-Verlages, halbtragische, vom Schicksal gebeutelte Figuren wie Spider-Man oder die X-Men.

Wie steht nun die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau zu dem Fall? Neal Adams schildert einen Kontakt mit dem Direktor des Museums, Piotr Cywiński, der als Briefwechsel stattfand: „Ich schrieb ihm, er solle die Bilder zurück geben, da wir so schnell keine Ruhe geben würden. Er antwortete darauf, ‚Ich gebe ja auch nicht das Lagertor denen zurück, die es gegossen haben.’“

Das Museum selbst war telefonisch nicht für ein Statement zu erreichen. Erst nach langen Warten äußerte sich die Gedenkstätte in einer ohne Betreff und namentlich nicht gekennzeichneten Mail in ähnlicher Weise wie von Adams erzählt: „Wir meinen, dass Dokumente dieser Art, wie die oben genannten Bilder, keine gewöhnliche Objekte zum privaten Gebrauch werden sollen. Andernfalls könnte die nicht grosse Zahl der erhaltenen Zeugnisse des Völkermordes – der Originalexponate – verteilt werden, und die authentischen Orte der Vorfolgungen würden seine einzigartige Bedeutung verlieren.“

Darüber hinaus verneint das Museum in diesem Statement Babbitts Eigentumsrechte an den Bildern: „Frau Gottliebova-Babbitt war aber niemals die Besitzerin dieser Bilder und deshalb besteht keine Möglichkeit, sie ihr abzugeben.“ (Das vollständige Statement lässt sich hier nachlesen.)

Währenddessen zieht der Comic weitere Kreise – zuletzt erschien er als Beigabe zur Finalausgabe der Miniserie X-Men: Magneto Testament im Februar 2009. In der Serie wurde die Herkunft Magnetos geschildert, auch er bekanntlich ein KZ-Überlebender.

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Der Text erschien erstmals im Juni 2009 in Ausgabe 105 der Comixene und basiert auf einer vorher verfassten Version für SPIEGEL-Online. Für die Comixene wurde der Text deutlich erweitert und aktualisiert.

Comixene 109 enthält einen vollständigen Abdruck des Comics in deutscher Sprache.

Er erscheint aus gegebenem Anlass – dem Tod von Joe Kubert – erstmals in diesem Blog.

Dinah Babbitt starb nur einen Monat nach Veröffentlichung des Textes im Juli 2009. Sie hat ihre Bilder nicht zurückerhalten.

2 Responses to “Schneewittchen in Auschwitz”

  1. Stefan Pannor » Blog Archive » Dem Krieg nachzeichnen. Zum Tod von Joe Kubert says:

    […] Impressum « Enten und Nazis (eine Überschrift, die immer zieht) Schneewittchen in Auschwitz » 15 08 […]

  2. Stefan Pannor » Blog Archive » Das versteckte Kind says:

    […] Die kleinen Wunder einer schrecklichen Zeit: als 1942 in einer Massenrazzia im besetzten Paris alle Juden der Stadt festgenommen und deportiert werden sollten, konnten sich rund 10.000 retten, weil sie von den Bürgern der Stadt gewarnt, weggebracht, versteckt worden waren. Darunter viele Kinder. Die nicht geretteten Juden endeten mehrheitlich in Auschwitz. […]