Da war doch noch was. Mindestens vierundzwanzig Texte, die schon längst in diesem Blog stehen sollten, aus diesem oder jenem Grund aber nicht hier landeten. Als kleiner Weihnachtskalender finden sie jetzt Verwendung. Heute: „Habibi“ von Craig Thompson.

2004, da war „Blankets“ die Comicsensation des Jahres. Die melancholische Liebesgeschichte setze „neue Maßstäbe“, schrieb das TIME Magazine und setzte „Blankets“ auf die Liste der 100 wichtigsten amerikanischen Romane der letzten hundert Jahre, gleich neben „Watchmen“ von Alan Moore und Dave Gibbons.

Da war Craig Thompson, der das Buch geschrieben und gezeichnet hatte, grade mal 29 Jahre alt und „Blankets“ sein zweites Buch überhaupt.

„Blankets“ hat seit Erscheinen nahezu alle wichtigen Comicpreise weltweit gewonnen. Aber es war auch der Anfang eines Verstummens. 2005 folgte noch ein Bändchen mit Reiseskizzen. Dann verschwand Thompson als Erzähler von der Bildfläche.

Lediglich über sein Blog versorgte er seine Leser sporadisch mit Neuigkeiten über sein nächstes Projekt. Über den Inhalt liess er wenig verlauten, nur dass es eine Liebesgeschichte wie aus Tausendundeiner Nacht werden und „Habibi“ heissen solle. Und dass es sehr sehr lang werden würde.

Immer mal wieder dagegen präsentierte Thompson Fotos von Bergen von Skizzen, von einer Handvoll gewaltiger Kladden, die allein den Rohentwurf des Buches beinhalteten, Variationen von Seiten, die immer wieder umgezeichnet wurden. Schließlich im März 2010, verkündete er, unzählige Seiten aus der Frühphase des Werks komplett neu zu zeichnen. Da war „Habibi“ bereits auf epochale 500 Seiten angeschwollen und noch lange nicht am Schluss.

Fast hatte es den Anschein, „Habibi“ werde Thompsons Weißer Wal. Beinahe wider allen Erwartens ist es jetzt doch da und es ist zwar kein Wal geworden, aber fast. Gut 700 Seiten stark, 1,7 Kilo schwer. Dick wie eine Bauarbeiterfaust. Ein Comic wie eine Drohung: Ich brech dir nicht nur das Herz, ich brech dir auch das Handgelenk.

Sogar die Begleitumstände des Erscheinens werden im Strudel dieses Comicschwergewichts zur Sensation. Erstmals überhaupt erscheint ein Comic zeitgleich in den USA und in Deutschland. Journalisten wurden angehalten, bloß nicht vor dem Veröffentlichungstermin etwas über das Buch zu sagen. Eine in der Comicbranche eher unübliche Praxis.

Aber die Frage ist: war es all das und das Warten wert?

Formal ist „Habibi“ eine Offenbarung. Lange nicht mehr war in einem Comic so viel erzählerische Vielfalt zu bewundern. Keinen Trick, keinen Kniff, den Thompson nicht zu beherrschen scheint, um den Erzählfluß am Laufen zu halten. Exzessiv verwebt er aufsehenerregende Perspektiven, Nahaufnahmen von berührender Zärtlichkeit und opulente Massenszenen mit Elementen der Bild- und Schriftkultur des Islam, vor dessen Hintergrund die Erzählung spielt.

Das alles auf höchstem ästhetischen Niveau, in Thompsons typischen, immer ein wenig an Wellen erinnernden fein ziseliertem Strich. Die schönsten Seiten von „Habibi“ zählen zu den schönsten Comicseiten überhaupt.

Was nicht darüber hinweg täuscht, dass der auf den fast siebenhundert Seiten vielfach gewundene und abschweifende Plot, der zudem über weite Strecken auf mehreren Zeitebenen parallel erzählt wird, im Kern schlicht trivial ist: das Sklavenmädchen Dodola und der Sklavenjunge Zam fliehen gemeinsam und leben auf einem in der Wüste liegengebliebenen Boot. Jahre später wird Dodola Konkubine des Sultans und Zam sein Eunuch. Wieder Jahre später fliehen beide erneut und leben zusammen in der Großstadt.

Dass die Geschichte so simpel ist, wird verschleiert von einer Vielzahl erzählerischer Abschweifungen, seitenlangen Auslassungen über Kalligraphie, Koran und Christentum sowie einer schier irrsinnigen Menge handlungstragender Figuren – Sklavenhalter, Karawanentreiber, Haremsdamen bevölkern das Buch zuhauf.

Statt daraus jedoch ein breit angelegtes Sittenbild zu stricken, gerät Thompson sein Figurenarsenal, das er nur unzureichend im Griff zu haben scheint, zur Nummernrevue. Es ist ein Kommen und Gehen der Nebenfiguren, das keinen Zweck erfüllt ausser die Geschichte voranzutreiben.

Selbst der im Hintergrund des Buches ablaufende Plot vom allmählichen ökologischen Zerfall des fiktiven Staates Wanatolien, in dem die Erzählung spielt, findet keinen Schluss, sondern verschwindet im Handlungsgestrüpp.

Was bei den Nebenfiguren noch als Bruch mit den Konventionen gelten mag, als postmoderne literarische Spielerei angenommen werden kann, offenbart sich spätestens bei Dodola und Zam als erzählerisches Unvermögen.

Dass Dodola eine Meisterin im Geschichtenerzählen ist und Zam kann gut kochen kann, ist beinahe alles, was Thompson über das Innenleben der beiden zu berichten weiß. Und, ach ja, sie haben sich ganz doll lieb.

Darauf fußend hangelt sich die Geschichte von Schicksalsschlag zu Schicksalsschlag. Vergewaltigung, Verdursten, Verschleppung, Kindsehe, Kastration, Kerker – kaum ein Schicksalsschlag aus dem Gruselbuch der Arabienklischees, vor allem aber aus dem Schundroman, den Thompson seine Figuren nicht erleiden lässt.

Das heißt nicht, das „Habibi“ ganz schlecht erzählt wäre.

Insbesondere im mittleren Drittel bekommt das Buch einen finsteren erzählerischen Drive, nicht frei von gelegentlich sogar drastischem schwarzen Humor. Mit der Figur des Müllfischers, dem Zam und Dodola auf ihrer Odyssee durch Wanatolien begegnen und der entgegen aller dramatischen Umstände darauf besteht, glücklich zu sein, präsentiert Thompson eine kraftvoll eingängige Figur von bizarrer Tragik.

Und wenn Dodola dem Sultan siebzig Nächte lang sexuell zu Diensten sein soll, ohne ihn dabei zu langweilen, um ihre Freiheit wiederzuerlangen, dann ist das eine verblüffend realistische, angesichts des bitteren Ausgangs grimmige Neudeutung der Scheherazade-Mär, die lange nachklingt.

Nichtsdestotrotz bleibt am Ende der Eindruck einer viel zu langen, viel zu verwobenen Geschichte, die zu viel auf einmal sein will – Liebesgeschichte, Parabel, religiöser Kommentar – um auch nur eines davon richtig zu sein. Das Handgelenk schmerzt, aber das Herz ist noch ganz. Andersrum wär’s besser.

Reprodukt, 672 S.; € 39,00

Der Rest vorm Fest:

01 – Israel verstehen in 60 Tagen oder weniger
02 – King Aroo
03 – Comic Noir
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One Response to “Der Rest vorm Fest (04): Habibi”

  1. Stefan Pannor » Blog Archive » Batmans Feldzug gegen den Terror (Teil 1) says:

    […] könnte meinen, sie haben sich abgesprochen. Craig Thompson, der jüngst mit „Habibi” seinen ersten langer Comic seit seinem weltweiten Bestseller „Blankets” vor sieben Jahren […]