Da war doch noch was. Mindestens vierundzwanzig Texte, die schon längst in diesem Blog stehen sollten, aus diesem oder jenem Grund aber nicht hier landeten. Als kleiner Weihnachtskalender finden sie jetzt Verwendung. Heute: Mike Carey dekonstruiert Harry Potter für Vertigo.

Romane um junge Zauberer und andere übernatürliche Teenager haben seit „Harry Potter“ Konjunktur. Mit „The Unwritten“ dekonstruieren Mike Carey und Peter Großss den Trubel um das Genre, schaffen aber zugleich einen faszinierenden literarischen Thriller.

Geben Sie gut acht, jetzt wird es etwas kompliziert.

Mitte der Neunzigerjahre war Peter Gross Zeichner, später auch Autor der Vertigo-Serie „Books of Magic“, einem ursprünglich von Neil Gaiman entwickelten Titel, dessen jugendliche Hauptfigur Tim Hunter verblüffende Ähnlichkeit zu Harry Potter aufwies – nur gab es „Harry Potter“ damals noch gar nicht.

Inwieweit sich J.K. Rowling für ihre Buchreihe von den „Books of Magic“ hat inspirieren lassen, ist nicht bekannt.

„The Unwritten“ wiederum basiert auf der Prämisse, dass es jemanden wie Harry Potter wirklich gegeben haben könnte. Hier heisst die Hauptfigur Tom Taylor (wir erinnern uns: Tim Hunter), ein Mann irgendwo in den Dreissigern, der sein Geld damit verdient, dass sein Vater fünfzehn Jahre Jahre früher Fantasy-Romane geschrieben hat, in denen eben dieser Tom Taylor als Hauptfigur und hochbegabter Jungmagier phantastische Abenteuer erlebt.

Auch diese Serie erscheint wieder bei Vertigo, gezeichnet erneut von Peter Gross. Und das soll alles Zufall sein?

Schon, dass die Magie nicht im Vordergrund steht. Tom Taylor kann gar nicht zaubern. Vielmehr tingelt er von Convention zu Convention und verdient sein Geld als berühmter Name auf Signierstunden und Diskussionspanels. Das einzige, was er wirklich gut kann: er weiss, wo beinahe jedes wichtige Buch der Weltgeschichte spielt. Er kennt die Geographie der Literatur.

Und unwiderlegbar ist die Geschichte in der Realität angesiedelt. Hier gibt es keine halben Gleise, die zu abseits gelegenen Zauberschulen mit sprechenden Tieren führen. Dafür gibt es den Nahost-Konflikt, Rechtsextremismus und Oil-Peak.

Nein, das ist kein Zufall. Mike Carey und Peter Gross dekonstruieren den Harry-Potter-/ Tim-Hunter-Mythos, von dem zumindest Gross selbst Bestandteil ist.

Erst fröhlich, später immer düsterer schildern sie eine Welt eines völlig ausser Kontrolle geratenen Fankults, in der sich Tom Taylor damit abplagen muss, für die Millionen Fans der Romane eine quasi-religiöse Figur zu sein. Und schicken Tom Taylor durch eine Hölle aus Stalkern, Jüngern, hassenden und liebenden Fans.

Natürlich steckt da mehr dahinter. Tom Taylors Vater, der nach der Niederschrift des dreizehnten (!) Romans spurlos verschwunden ist, war Bestandteil, möglicherweise auch Opfer einer gewaltigen literarischen Verschwörung, die mindestens von den Zeiten Mark Twains und Oscar Wildes bis in die Gegenwart reicht und deren Ziel es zu sein scheint, die Literatur von allem unangenehmen, allzu Realistischen zu säubern.

Die Idee dieser Verschwörung gibt den beiden Machern die Möglichkeit, mit einer Vielzahl Zitaten zu arbeiten. So lässt sich denn „The Unwritten“, genau wie z.B. Alan Moores „League of extraordinary Gentlemen“ auf einer Vielzahl Ebenen lesen: als Verschwörungs-Thriller, als Dekonstruktion des Potter-Mythos, als Satire auf diverse fantastische Genres, als Hommage an die Literatur.

Es lohnt sich, ein wenig literarisches Allgemeinwissen zu besitzen, ist aber nicht zwingend notwendig. Gerade durch die Vielschichtigkeit bekommt „The Unwritten“ eine erzählerische Dichte, funktioniert aber auch mühelos als satirischer Thriller für sich. Nicht umsonst ist „The Unwritten“ einer der erfolgreichsten Vertigo-Neustarts der letzten Jahre und in den USA der zweitbestverkaufte Titel des Labels nach „Fables“.

The Unwritten, Bd. 1: Tommy Taylor und die gefälschte Identität; Panini Comics, 160 S.; € 16,95

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    2 Responses to “Der Rest vorm Fest (07): The Unwritten”

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