Im November und Dezember suchte der „Tagesspiegel“ die Comics des Jahres. Neben den Lesern war auch eine Gruppe Juroren gefragt, zu der u.a. ich gehörte. Im folgenden meine Auswahl mit Begründung.

1. David Small
Stiche
(Carlsen)

„Ich war sechs“, so beginnt David Small seine Graphic Novel, ach was, seien wir doch ehrlich, seinen Comicroman „Stiche“, und was in diesem trockenen, fast kürzesten aller Sätze mitschwingt an Melancholie und Wahrhaftigkeitsbezeugung, setzt den Tonfall für das ganze, dreihundertdreissig Seiten lange, schmerzhaft schöne und trotz des Umfangs atemberaubend ökonomische Buch. Weitab von Verklärung erinnert sich Small an eine Kindheit mit Krebs, an Erwachsene, die in bizarren sozialen Ritualen gefangen sind, an den Geruch fremder Häuser und an Verwandte, die man einfach nicht leiden konnte.

Trotz des menschlichen Dramas – sein eigenes – das Small hier minutiös abrollt, ist „Stiche“ von ergreifender Universalität. Es ist grade deshalb so gut, weil er sein Erleben nicht mit Pathos verklärt, sondern alles, jedes Panel auf das Nötigste reduziert. Der emotionale Schlag, den er, sonst Kinderbuchillustrator, mit diesem Comic führt, sitzt tief und schmerzt lange, grade weil er ihn durch keinerlei Sperenzchen abfedert.

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2.Simon Schwartz
Packeis
(avant)

Die Geschichte von Simon Schwartz‘ Zweitling „Packeis“ geht ungefähr so: kurz vor Erreichen des Nordpols schickt der Entdecker Robert Peary, gesundheitlich schwer angeschlagen, seinen Assistenten Henson zur Erkundung voraus. Der geht zuerst über den Pol hinaus, dreht dann aber um und kommt fast zeitgleich mit dem ihm folgenden Peary am Pol an. Dass heute dennoch Peary als mutmaßlicher Entdecker des Nordpols gilt, hat einen sehr simplen Grund. Henson war schwarz.

An sich stimmt die Geschichte soweit. Allerdings sollte man sich hüten, alles Erzählte des Comics für bare Münze zu nehmen. Schwartz nimmt sich diverse historische Freiheiten heraus. Zugunsten der Dramaturgie verschiebt er Ereignisse im Zeitverlauf, ändert Charakterzüge. So wie durch die Verwendung unzähliger feinstabgestimmter Blautöne im Buch der (falsche) Eindruck von Farbigkeit entsteht, so ist die Erzählung über diese nicht unbedeutende historische Lüge vom ersten mann am Pol, der nicht Peary war, selbst ein bewusstes Spiel mit dem Trügerischen. Und mit dem Comic. Anleihen an Inuit-Bildkultur und deren fremde Götzenwelt vermengt ausgerechnet Schwartz mit dem Stil des „Mosaik“ von Hannes Hegen, von dem er die kantigen Nasen und wimpernlosen Augen übernimmt. „Packeis“ ist kein Lehrcomic. Durch Schwartz‘ freies Spiel mit der Wahrheit entsteht eine doppelbödige Erzählung, die bei aller Kälte des Sujets von tiefer menschlicher Wärme ist.

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3. Naoki Urasawa
Billy Bat
(Carlsen)

Leicht macht es Urasawa dem Leser schon lange nicht mehr, dem europäischen erst recht nicht. „20th Century Boys“ war der am umfangreichsten gestickte Erzählgobelin des letzten Vierteljahrhunderts. „Pluto“, seine Hommage an den manga-Altmeister Osamu Tezuka mit knapp 1.600 Seiten ein Kurzwerk dagegen, aber voller Querverweise auf andere Manga. Wohin wird „Billy Bat“ führen, das erst vor zwei Jahren in Japan als Serie gestartet und dessen Ende noch nicht abzusehen ist? Klar ist, Tezuka führt sein Konzept der Rätselhaftigkeit weiter, möglicherweise noch größer und umfangreicher als je zuvor.

Da ist also dieser Fledermausdetektiv, natürlich eine Hommage an Batman, aber genauso an Micky Maus und Felix the Cat, der gleichzeitig eine populäre Comicfigur in den USA ist und das Signet eines Geheimordens in Japan, der sich offenbar daran macht, die japanische Regierung zu stürzen. Urasawa beschränkt sich nicht darauf, einen kontinente- und jahrhunderteübergreifenden Verschwörungsplot aufzumachen, sondern flicht allein im ersten Band Abhandlungen über die Natur der Kunst ein, entwirft, ohne es dem Leser zu sagen sein eigenes historisches Paralleluniversum, sinniert über die Geschichte des Manga und wirft einen nostalgischen Blick zurück auf das Nachkriegsjapan. Dass das lles nicht unter der eigenen Last zusammenkracht und ins Komische oder Abstrakte abrutscht, sondern hochspannend ist, das ist die große Kunst von Urasawa. Hier entsteht ein Klassiker, und man kann von Anfang an dabei sein.

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4. Charles Burns
Die Kolonie
(Reprodukt)

Aber ehrlich – so schlimm kann das doch alles nicht gewesen sein? Das war die Frage, die man sich als Leser schon bei „Black Hole“ stellen musste, jenem epochalen Comic über Sex und teenage angst, tintenschwarz scheinbar direkt aus Burns‘ Unterbewußtsein aufs Papier gegossen. War das nur die Aufarbeitung von Burns‘ eigener Jugend, oder wollte er damit den Zustand einer ganzen Generation erfassen?

Für seine neue Erzählung, angelegt auf mehrere Alben, gönnt Burns sich Licht und Farbe. Aber damit will er den Leser nur auf eine falsche Fährte locken. Die ganzen Anspielungen auf die amerikanischen Romantikcomics der Fünfzigerjahre, auf „Tim & Struppi“, auf Soaps und Kitschmanga, gehören zu einem System dazu, das verschlüsselt als Geschichte über eine verlorene Liebe, über psychische Krankheiten, dystopische Zukünfte, Masken und Identität auf mehreren, komplex verschachtelten Erzählebenen erneut Burns‘ zentrale Motive Angst, Sex, Verlassenheit und Tod aufgreift. Falls „Die Kolonie“ ein Rätselspiel ist, dann wissen wir, wie die Antwort lautet – aber es ist atemberaubend, Burns dabei zuzusehen wie er die Frage dazu inszeniert.

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5. Isabel Kreitz
Emil und die Detektive
(Dressler)

Isabel Kreitz, und Kästner wieder. Es ist die dritte Adaption eines Kästner-Kinderbuches als Comic von ihr, und wieder ist ihr eine Steigerung gelungen. Natürlich, da ist immer noch der Kästner-Plot, die Dialoge der Vorlage, an die sie sich engstens hält. Aber anders als andere, vor allem Filmadaptionen des Buchs vermeidet Kreitz jede Romantisierung. Kästners naturalistische, ironische und schnelle Erzählweise ist wie gemacht Kreitz‘ grafischem Duktus, der fast allen ihren Comics eine journalistische Qualität hat und in diesem Band eine möglichst originalgetreue Rekonstruktion des Berliner Hinterhoflebens der Zwischenkriegsjahre anstrebt.

Stilistisch zwar wie bei den Vorgängerbüchern eng an den sanften Kreidestrich des Kästner-Illustrators Walter Trier angelehnt, geht sie so weit über dessen Illustrationen hinaus, indem sie das ganze Berlin – und ein wenig bayrische Provinz – der Zwanzigerjahre zum Leben erweckt. Am Plot des Buches ist ja dank Kästner sowieso nichts zu rütteln. Wie Kreitz ihn allerdings mit Witz und Atmosphäre auflädt, ist atemberaubend.

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