Jedes Jahr wählt eine Kritikerjury für den Tagesspiegel die Comics des Jahres. Ich gehöre zur Jury. Jedes Jahr stellt sich nicht so sehr die Frage, welche fünf Bücher auf die persönliche Bestenliste kommen. Sondern welche zehn, fünfzehn, zwanzig Titel es nicht schaffen.

Ich habe das zuletzt immer mit dem Abziehen eines Pflasters verglichen. Man kann noch eine ganze Weile werten und hadern und grübeln und gewichten und neugewichten — bei mir auf dem Tisch liegt dennoch dieser meist sehr große Stapel Comics, aus dem man fünf Beste extrahieren soll. Also macht man besser irgendwann schnell und radikal. Der Überhang muss weg.

Man bereut es ja am nächsten Tag sowieso. Denn alle anderen Titel hätten ebenso einen Top-5-Platz verdient. Hätte man nicht doch besser den…? Oder den anderen…?

Es gibt keine ideale Entscheidung. Hier einige Titel, die auch auf dem Tisch lagen und es mit Fug und Recht ganz genauso verdient hätten, in meine vorderen Fünf zu kommen. Vollkommen ungeordnet.

Petteri Tikkanen
Blitzkrieg der Liebe
(Avant)

Liebe, lange Haare und die Ramones – eine semiautobiografische Geschichte des enfant terrible Tikkanen, der, wenn er nicht superzärtliche Comics zeichnet, als brutale Metal-Parodie auf Bühnen rumbrüllt. Die Nicht-Liebesgeschichte von Eero und Kanerva ist melancholisch, gleichzeitig hochkomisch, eng verwoben mit der Geschichte Finnlands und des Punk, hochpolitisch und trotzdem global verständlich.

Ralf König
Barry Hoden – Im Weltall hört dich keiner grunzen
(Männerschwarm)

Wir habens verstanden: bei Rowohlt veröffentlicht König die eher verkopfteren Stoffe, bei Männerschwarm die Sachen aus dem Bauch. „Barry Hoden“, tatsächlich sogar Spin-off des bei Rowohlt erschienenen Bandes „Raumstation Sehnsucht“ ist ganz Bauchding, eine brüllend komische Parodie auf und Liebeserklärung an die Science Fiction. Der Spaß, den König bei seiner tatsächlich supertrashigen Geschichte um Pimmelraumschiffe und behaarte Testosteron-Aliens hatte, überträgt sich mühelos auf den Leser, die Genre-Zitate und bei aller Trashigkeit emotionale Ernsthaftigkeit (es ist immerhin eine Liebesgeschichte) runden Hodans vermutlich einmaligen Weltraumausflug ab.

Sascha Wüstefeld/ Ulf Graupner
Das Upgrade 3
(Graufeld)

Graupner und Wüstefeld wollen dem Leser auch nach drei Bänden noch nicht sagen, worum es geht, aber vermutlich wohl um alles: teleportierende FDJler, Surfrock, Sex, Drogen und Tod. Vermutlich spielt jedes einzelne Panel eine Rolle in einem gewaltigen Puzzle, aber auch wenn man das Bild beim Lesen noch nicht klar hat: es macht einfach riesengroßen Spaß. Zumal Graupner und Wüstefeld mit atemberaubenden Bildkompositionen und Querverweisen aus gefühlt der gesamten Popkultur dahin gehen, wo keine deutschen Comiczeichner vor ihnen waren.

Mari Yamazaki
PIL
(Carlsen)

Außenseiter in der normierten japanischen Gesellschaft zu sein muss die Hölle sein Yamazakis Geschichte, wie sie sich in den Siebzigern der frühen Punkbewegung anschloß und die Haare kurz schor ist wohl in Teilen autobiografisch, hier aber verwoben mit einem ungewöhnlichen, vermutlich fiktiven Generationskonflikt: dem Zusammenleben mit dem Großvater, der in vieler Hinsicht politisch und sozial verständiger ist als die junge Punkerin und ihr genau darum alle Steine aus dem Weg räumt, damit sie sein kann wie sie ist. Der auf die gleichnamige Band verweisende Titel ist natürlich kein Zufall. Eine wunderschöne Geschichte darüber, wie der Punk nach Japan kam und was dort mit ihm passierte.

—> zu TEIL 2.

2 Responses to “Und sonst so? (Teil 1)”

  1. Stefan Pannor » Blog Archive » Und sonst so (Teil 2) says:

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  2. "Best Comics 2014": Ein Rückblick auf das Comic-Jahr - tradepaperback says:

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