Jedes Jahr wählt eine Kritikerjury für den Tagesspiegel die Comics des Jahres. Ich gehöre zur Jury. Jedes Jahr stellt sich nicht so sehr die Frage, welche fünf Bücher auf die persönliche Bestenliste kommen. Sondern welche zehn, fünfzehn, zwanzig Titel es nicht schaffen. Die zweite Hälfte der Auswahl von Titeln, die es gleichermaßen verdient hätten, in meine Liste zu kommen.

Levin Kurio
Bella Star trifft Kala
(Weissblech Comics)

Gut, der Trash von Weissblech gehört eigentlich ins Heft – aber hier wollen wir mal gnädig sein: das Zusammentreffen zweier altgedienter Kurio-Heroinnen, deren Haupteigenschaften darin bestehen, nackt oder halbnackt abstruse Abenteuer mit schaurigen Schleimmonstern zu erleben, ist so unglaublich umwerfender Unfug, das sogar das ungewohnte Format angemessen erscheint. Kurio, von allen deutschen Comicerzählern wohl der mit dem intuitivsten Zugang zum Medium, produziert hinter der trashigen, gnadenlos nicht jugendfreien Oberfläche dieses Comics eine Liebeserklärung ans Medium, an Meister wie Kirby und Simonson oder das Siebziger-Jahre-“MAD“. Umwerfender Spaß.

Smolderen/ Clerisse
Das Imperium des Atoms
(Carlsen)

Vordergründig eine Adaption der ganz realen psychologischen Probleme des Science-Fiction-Autors Cordwainer Smith, der sich phasenweise für einen interstellaren Abenteurer hielt, ist dieser farben- und formenreiche Band vor allem eine Hommage an den frankobelgischen Comic der Fünfzigerjahre, insbesondere an die sich in unvergleichlichem Höhenflug befindliche „Spirou“-Redaktion. Gastauftritt von André Franquin inklusive! Ein grafisch opulentes Vergnügen, das um so mehr Schichten enthüllt, je mehr der Leser bereit ist, die Rätsel, Zitate und Anspielungen der Geschichte zu entschlüsseln. (Nur eine Warnung: mit den komplexen, eher nach innen gerichteten, hochpolitischen und intellektuell fordernden Erzählungen von Smith hat der Band tatsächlich nichts zu tun.)

Ville Tietäväinen
Unsichtbare Hände
(Avant)

Da, wo unser Essen herkommt… aus Spanien, von gewaltigen Obstplantagen, auf denen vor allem nordafrikanische Flüchtlinge unter unmenschlichen Zuständen arbeiten: praktisch nicht bezahlt, in einer Form der modernen Sklaverei, ohne Schutz den Pestiziden ausgesetzt, von der Willkür der Wachen abhängig und ohne Chance, diesem Ort zu entkommen. Tietäväinens Buch ist das Ergebnis mehrjähriger Recherche, erschütternd und wütend machend.

Émile Bravo
Pauls Fantastische Abenteuer
(Carlsen)

Dass man Kinder in ihrer Lektüre ernst nehmen soll, sagen Pädagogen und Jugendbuchautoren ja immer wieder gern – aber nur wenige schaffen es, dass so konsequent durchzuziehen wie Bravo. Dessen „Paul“-Serie spielt mit den Sujets der Science Fiction (Klone, Weltraumabenteuer), aber so untrivial clever, gelegentlich voll schwarzem Humor, und in der Handlung so dicht gewoben, auf eine Art, die den Leser tatsächlich fordert, wie es nur wenige Jugendbücher und -Comics tun. Vermutlich muss man dem erstaunten Leser das sogar erklären: ja, diese hochintelligente, witzige und rasante Serie ist für Kinder gemacht – nur begeht Bravo nicht den verbreiteten Fehler, seine Leser zu unterschätzen. Ein hinreissender Comic für alle Altersstufen.

Alan Moore
Miracleman
(Panini)

Drei Jahrzehnte war dieser Comic aus rechtlichen Gründen im Limbus verschollen. Moores Neuinterpretation des britischen Superhelden datiert noch vor „Swamp Thing“ und „Watchmen“, also vor seinem Durchbruch in den USA, zeigt aber bereits alles, wofür der Autor in den Achtzigerjahren berühmt werden sollte: clevere, langfristig angelegte Plots, glaubhafte zwischenmenschliche Beziehungen, brillante Sprachprosa – vor allem aber der Wille, das eigene Genre, wenn nicht sogar Medium zu dekonstruieren und zu etwas völlig neuem umzubauen. Fünf Jahre später sollte ihm das tatsächlich geglückt sein – hier ist der erste Schritt zu sehen.

—>zu TEIL 1.

2 Responses to “Und sonst so (Teil 2)”

  1. Stefan Pannor » Blog Archive » Und sonst so? (Teil 1) says:

    […] « Geschafft! “Spirou” nahezu komplett Und sonst so (Teil 2) » 12 12 […]

  2. "Best Comics 2014": Ein Rückblick auf das Comic-Jahr - tradepaperback says:

    […] Stefan Pannor: Und sonst so? (Teil 1) / Teil 2 […]