Noch ein Artikel (größtenteils) zu Yoshihiro Tatsumi. Erschienen vor einigen Jahren in der WELT, lange bevor an eine deutschsprachige Edition seiner Werke auch nur zu denken war.

Glücklich bringt der Junge seine frisch ausgeliehenen Bücher nach Hause – endlich neuen Lesestoff! Aber das sind keine normalen Bücher. Wir befinden uns im Japan des Jahres 1948, und diese Bücher sind Manga – japanische Comics. Sie stammen von Osamu Tezuka, dem Star der Szene dieser Zeit. Zehn Jahre später wird dieser Junge selbst ein gefragter Manga-Künstler sein, dessen Geschichten in unzähligen Magazinen und Büchern erscheinen.

Diese Geschichte ist kein Märchen. Sie ist nur nicht die ganze Wahrheit. Sie ist der Anfang dessen, was Yoshiro Tatsumi in seiner Autobiografie „A Drifting Life“ über einen ständigen Kampf erzählt, der den Künstler von innen her auffrisst. Der Kampf heisst Manga. Wie zerstörerisch bis zur letzten Konsequenz diese Erzählform sein kann, das schildert sein Kollege Hideo Azuma in seinem Buch „Der Ausreisser“ – Manga machte Azuma zum Alkoholkranken und Obdachlosen. Zusammen bieten beide Bücher einen bitteren, ungeschönten Einblick in die härteste Comickultur der Welt.

In Deutschland kennt man von Manga fast nur die romantische Seite. Hierzulande erscheinen fast ausschließlich simple Unterhaltungsstoffe für Jugendliche im Taschenbuchformat als Manga; sie bringen den Verlagen mehrere Millionen Umsatz im Jahr. In Japan ist nicht nur der Umsatz größer – umgerechnet bis zu vier Milliarden Euro jährlich – sondern auch die Bandbreite der Titel, die von kindlich-naiven Abenteuerstoffen reichen bis zur komplexen Literatur. Aber auch der Druck: die Geschichten erscheinen meist in wöchentlichen und monatlichen Magazinen. Die Leser stimmen ab, welche Serien weitergehen. Comics nach dem „Big Brother“-Prinzip. Die Künstler werden permanent nach ihrem kommerziellen Erfolg ausgesiebt, müssen immer liefern, arbeiten in der Regel sieben Tage die Woche ohne Urlaub.

Tatsumi ist einer von denen, die in den fünfziger Jahren das Literarische in den Manga einbrachten und ihn damit erwachsen machnten. Es müsse doch noch etwas anderes geben als Comics für Kinder, schildert er seine Gedankengänge in „A Drifting Life“. Sein Ausweg heisst „Gekiga“ (jap. „dramatisches Bild“), das von ihm erfundene Genre des realistischen japanischen Comics. Damit wird er zum gefragten Zeichner. Sein Arbeitspensum ist unglaublich. 130 Seiten und mehr muss er pro Monat zeichnen. Dazu kommen zeitweise Jobs als Redakteur und Herausgeber – natürlich unbezahlt. Einen neuen Manga von zwanzig Seiten und mehr liefert er nicht in Wochen ab, sondern in Tagen. Auch weil der wirtschaftliche Druck groß ist. Für seinen ersten vollständigen Manga soll er 12.000 Yen Honorar erhalten. Ein japanischer Berufseinsteiger der untersten Gehaltsklasse verdiente damals 8.000 Yen monatlich. Später versucht Verleger Tatsumi noch um ein Drittel des zugesicherten Honorares zu prellen.

Die Welt des Mangazeichnens ist nicht romantisch. Weil Tatsumi und seine Kollegen unter dem permanenten Druck stehen, Geschichten zu liefern, grasen sie permanent die Kinos ab und klauen, was ihnen gefällt. Vorlage sind die Filme von Hitchcock und der Nouvelle Vague, aber auch einheimische Streifen, Krimis, Romanzen, Dramen. Diese werden möglichst sofort gesehen – damit einem keiner zuvor kommt. Einen besonderen Einfluss auf Tatsumi und dessen Gekiga-Kollegen hinterlässt der Krimiautor Mickey Spillane und dessen Hard-boiled-Romane, der gleich für eine ganze Reihe von Mangas verschiedener Zeichner zum indirekten Vorbild wird.

Der Lohn für die Mühe ist gering. Tatsumi schildert, wie die Verlage die Auflagenzahlen seiner Werke geheim halten, um ihn davon abzuhalten, mehr Honorar zu fordern. Als bei einer Anti-Manga-Pressekampagne einer von Tatsumis Kollegen namentlich ins Visier der Zeitungen gerät, findet der über Monate keine Auftragnehmer – kein Herausgeber stellt sich hinter seinen Künstler. Um die Zeichner besser kontrollieren zu können, stecken die Verlage sie in eigens angemietete Wohnhäuser zusammen – in einem Fall zu dritt in einem Zimmer. Kontakte der Zeichner zu anderen Verlagen werden argusäugig überwacht.

Es sind nicht nur relativ bekannte Zeichner, die diesem dauernden Druck von innen nach neuen Ideen und von außen durch die Verlage ausgesetzt sind. Osamu Tezuka galt in den fünfziger Jahren als Superstar und wird heute wegen seines Ruhmes und seiner stilprägenden Arbeiten in Japan als „Gott des Manga“ verehrt. Tatsumi fasst zusammen, wie dieser Tezuka in jungen Jahren mehrere monatliche Serien und Einzelepisoden parallel produziert. „Und zu allem Überfluss bereitet Tezuka sich auch noch auf die Abschlußprüfungen an der Fakultät für Medizin in Osaka vor“, schließt Tatsumis ebenso bitter wie neidvoll.

Wohin dieser Druck führen kann, schildert Hideo Azuma in seinem Buch „Der Ausreißer“. In den siebziger und achtziger Jahren war Azuma eines der angesagtesten Comictalente Japans. Hauptsächlich weil ihm seine Frauenfiguren leichtfüßig und sexy gerieten. Dann kommt der Zusammenbruch. Azuma soll immer mehr belanglose Episoden mit attraktiven Frauen zeichnen, weil das bei den Lesern ankommt. Seine erzählerischen Qualitäten sind nicht gefragt. Seine Geschichten werden von seinen Redakteuren vor Drucklegung entweder gar nicht gelesen oder permanent umgeschrieben. Azuma trinkt, um den psychischen Druck auszugleichen, der durch die ständige Terminnot entsteht. Der Alkohol gibt ihm Wahnvorstellungen. Schließlich steigt Azuma von einem Tag auf den anderen aus seinem Leben aus. Er wird zum Penner in den Vororten Tokyos, der sich von Müll ernährt und in einer Plastikplane im Wald haust.

Mit makabrer Ironie schildert Azuma seine Monate auf der Straße. En Detail zeigt er, wie er schimmliges Essen klaut, Fusel aus Resten ansetzt, mit einer Öllampe und einer alten Konservendose Nudeln kocht oder Kohl nachts unter seinem Hintern mit Körperwärme gart. Azuma ist permanent auf Alk. Und doch glücklicher als in seinen Tagen als Comiczeichner.

Zwei Mal wird er nach langer Suche von der Polizeit aufgegriffen und versucht sich in sein altes Leben zu reintegrieren. Beim ersten Mal erweist sich einer der Polizisten als Fan von ihm. Er bittet Azuma um eine Zeichnung. Widmen soll er sie mit dem Sinnspruch „Das Leben ist traumhaft.“ Azuma, zerlumpt, stinkend und alkohokrank, macht es.

Tatsumi ist zum Glück nie so weit abgestürzt. Heute gilt er als Erfinder des „alternative Manga“. Aber ist er damit glücklich? „Ich werde niemals mit ‚gekiga‘ fertig sein“, beschliesst er seine Erinnerungen. Der Kindheitstraum Comiczeichnen ist für ihn nicht zur Befreiung geworden, sondern zur Sucht.

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