Es ist vollbracht! Nach drei Jahren liegt der vollständige „Buddha“ in zehn Bänden auf deutsch vor. Nicht nur eins der zentralen Werke im Schaffen des Manga-Übermeisters Osamu Tezuka, sondern ebenso einer der besten Comics aller Zeiten. Eine ausführliche Analyse in zwei Teilen.

Von Alexandre Dumas sagte man zu Lebzeiten, niemand würde alle seine Romane kennen – nicht einmal Dumas selbst. Der französische Schriftsteller („Die drei Musketiere“) hatte als erster Autor seine literarische Produktion auf Fließband umgestellt und diverse Assistenten angeheuert, die seine Texte für ihn verfassten. Unter Dumas‘ Namen erschienen mehr als dreihundert Romane.

Im Vergleich zu Osamu Tezukas (1928 – 1989) Gesamtwerk ist das freilich eine überschaubare Menge. Der Zeichner hatte im Nachkriegsjapan den modernen japanischen Comic quasi im Alleingang erfunden und durch eine schier gewaltige Menge an Werken geprägt. 150.000 bis 170.000 Comicseiten soll der Japaner gezeichnet haben. Über den genauen Wert sind sich die Experten uneins. Schwierig ist hier vor allem die Zählung diverser anonym erschienener Frühwerke sowie für Nachauflagen neu gezeichneter Sequenzen und ganzer Bücher. Eine japanische Gesamtausgabe seiner Comics brachte es auf mehr als 400 dicke Bände.

Es ist klar, dass jeder westliche Einblick in dieses Schaffen nur bruchstückhaft sein kann. Während allerdings in Frankreich und den USA umfangreiche Tezuka-Editionen laufen, die trotz aller zwangsläufigen Unvollständigkeit einen Eindruck in die gewaltige thematische Bandbreite des Erzählers geben (lobenswert ist hier vor allem das Bemühen des US-Verlages Vertical), ist Tezuka in Deutschland bisher nicht über den Status einer Randnotiz hinausgekommen. Bisherige Editionen beschränken sich auf zwei Phasen: das Frühwerk für jugendliche Leser („Astro Boy“) oder das nihilistische Spätwerk („Adolf“). Kaum wahrgenommen wird die unglaubliche Nuancenvielfalt zwischen diesen beiden Polen. Tezukas Mädchenmangas, seine erotischen Comics, die autobiographischen Geschichten sind und bleiben in Deutschland nicht wahrnehmbar. Dabei war es gerade diese Vielfalt, die Tezuka, noch vor der schieren Menge seines Werkes, so bedeutsam für die japanische Comicindustrie machen.

Mit „Buddha“ erscheint nun immerhin ein Werk, das an der Schnittstelle mehrerer umfangreicher Erzählinteressen Tezukas liegt und damit die Möglichkeit gestattet, nicht nur Puzzlestücke des Werkes dieses Zeichners zu erfassen. Erzählt wird die Lebensgeschichte von Siddharta Gautama, der in der buddhistischen Mythologie als erster Buddha und somit Begründer dieser Religion gilt.

Die Geschichte wurde von 1972 bis 1983 serialisiert, und zwar in „Kibo-no-tomo“, einem speziell auf Schüler der mittleren Jahrgangsstufen ausgerichteten Magazin. Zeitlich fällt der Beginn der Geschichte damit in Tezukas düsterste Phase. Künstlerisch galt Tezuka zu dieser Zeit in Japan als veraltet. Aus privaten Gründen hatte er 1971 sein Trickfilmstudio verlassen, das daraufhin 1973 bankrott ging. Die in dieser Zeit entstandenen Comics haben fast durchgängig einen düsteren Grundton. „Barbara“ (1973 – 1974, dt. bei Schreiber & Leser) ist eine sarkastische Satire auf den japanischen Literaturbetrieb, „MW“ (1976 – 1978) die Geschichte eines christlichen Serienmörders verknüpft mit der drastischen Darstellung illegaler Giftgaswaffen. „Black Jack“ (1973 – 1983), vielerorts aufgrund seines Erzähltonfalls als „japanischer Batman“ bezeichnet, ist die Geschichte eines verunstalteten Arztes, der nach Rache sucht.

Tatsächlich aber liegt der Anfang von „Buddha“ deutlich früher. Tezuka, der in den Fünfzigerjahren vorrangig abenteuerliche Unterhaltung für Kinder produziert hatte, begann ab den Sechzigerjahren sein Repertoire zu erweitern, indem er sich Stoffen zuwandte, die inhaltlich wie gestalterisch ein reiferes Lesepublikum verlangten. Zu den ersten spezifisch für erwachsene produzierten Titeln gehörte die Serie „Phönix“ (1967 – 1973), ein den gleichnamigen Mythos um den wiederauferstehenden Feuervogel aufgreifender Manga, der parallel auf einer Vielzahl historischer und potentieller zukünftiger Zeitebenen erzählt ist. Tezuka versuchte mit dem umfangreichen, abgebrochenen, später wieder aufgegriffenen, aber letztlich nie beendeten Werk die Geschichte Japans auszuloten.

„Phoenix“ kann als Vorstufe zu „Buddha“ gelten. In mehreren der insgesamt zwölf entstandenen Bände beschäftigt sich Tezuka mit dem historischen japanischen Buddhismus und verbindet dessen Ideen und Ursprünge mit einer meist recht abenteuerlichen Handlung.

Damit zeigen sich gleich drei zentrale Ideen in Tezukas Werk. Zum einen die Vorstellung, umfangreiche, ja epische Comics zu erzählen („Buddha“ umfasst 3.000 Seiten, „Phoenix“ 5.000). Mit seinen Vorstellungen von Comicromanen nahm Tezuka die westliche Idee der Graphic Novel um Jahre vorweg. Ebenso löste er sich von den bisherigen Schemata des japanischen Mangabetriebes, bei dem umfangreiche Werke vor allem dadurch entstanden, dass sie so lange wie möglich seriell fortgesetzt wurden. Zwar arbeitete Tezuka zeitweise ebenso. „Phoenix“ und „Buddha“ aber sind das Ergebnis planhaften Vorgehens. Beide besitzen eine deutliche dramaturgischen Struktur, die sie über die zufallshaften Wirrungen der Endlos-Fortsetzungserzählungen erheben.

Zum anderen zeigt sich in „Buddha“ die Auseinandersetzung mit Religion, die sich auch in dem später entstandenen „MW“ spiegelt, dort allerdings das Christentum betreffend, und ganz allgemein in extrem vielen Tezuka-Werken anzufinden ist. Und schliesslich zeigt „Buddha“ die trotzdem bestehen bleibende Öffnung für jugendliche Leser, für die der Comic – anders als „Phoenix“ – ursprünglich entstand.
Wohl aus letzterem Grund nimmt sich „Buddha“ im Vergleich zu seinem Vorgänger, aber genauso zu den übrigen Tezuka-Werken der frühen Siebzigerjahre deutlich leichter aus. Was nicht bedeutet, dass es sich bei „Buddha“ um leichte Kost handelt. Tatsächlich zeigt sich bereits im ersten Band Tezukas umfangreiche Planung, die einen aufmerksamen Leser erfordert.

Statt mit der Geburt der Titelfigur zu beginnen, wie die meisten Buddha-Legenden, schaltet Tezuka der Geschichte einen mehrhundertseitigen Prolog voran. Zentral für diesen Teil der Geschichte ist ein umfangreich angelegtes Drama um den Bettlerjungen Chapra, der unter diesen Umständen den sozialen Aufstieg versucht und dramatisch scheitert. Darin verwoben sind mehrere kleinere und größere Einzelschicksale. Mit düsterem Sarkasmus schildert Tezuka so die sozialen Umstände der prä-buddhistischen Ära Indiens in einer Art „Kampf aller gegen Alle“, wie es der englische Philosoph Thomas Hobbes im 18. Jahrhundert formulierte. Besonderen Schwerpunkt legt Tezuka dabei auf das rigide indische Kastensystem.

Hier zeigt sich auch der Unterschied zwischen japanischem und westlichen Comicverständnis. Immerhin wurde „Buddha“ als Jugenderzählung konzipiert! Freimütig geht Tezuka mit Nacktheit um, Figurentode werden drastisch und explizit gezeigt, Armut und Hunger drastisch geschildert. Wo westliche Comics für jüngere Leser, insbesondere solche aus der selben Zeit, meist verschämt abblenden, erzählt Tezuka freimütig und offen.

Das ist vor allem auf den Einfluss des Gekiga zurückzuführen. Unter diesem 1957 geprägten Schlagwort (wörtl. übersetzt „das ernste Bild“)hatte der Mangazeichner Yoshihiro Tatsumi einen Reifeprozeß des japanischen Comic in Gang gesetzt, der das Medium für erwachsene Leser in Japan öffnen sollte. Zentral war die Idee einer möglichst realistischen, ungeschonten und nüchternen Darstellung der erzählten Ereignisse. Hatte sich Tezuka anfang noch skeptisch gezeigt – sein Manga „I.L.“ (1969 – 1970) persiflierte er den Hang vieler Gekiga-Zeichner zu drastischer Sex- und Gewaltdarstellung und expressionistischer Bildsprache, indem er eine Vielzahl äusserst drastischer Kurzgeschichten lose miteinander verknüpfte – begann er ab den Siebzigerjahren die Gekiga-Idee ernsthaft zu adoptieren.

Sicher auch deshalb ist „Buddha“ heute noch so mühelos zu lesen. Der Prolog um Chapra ist ein schnörkelloses Drama, in all seinen exploitativen Wendungen sicher auch ein ziemlicher Reißer. Seine dramaturgische Notwendigkeit offenbart sich im Verlauf der Handlung mit Buddha und seinen Versuchen, sich ideell wie praktisch vom Kastensystem zu lösen und der bis dato herrschenden Vorstellungen von Leben und Tod als Strafe eine Erlösungs- und Befreiungsidee entgegenzusetzen. Weiter zu TEIL 2.

One Response to “Der Manga-Meister und der Heilige (Teil 1)”

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