Hier das Vortragsmanuskript zur Ausstellungseröffnung in der Moritzbastei in unveränderter Fassung, Rechtschreibfehler inklusive.

Vortrag

Ausstellungseröffnung „Berlin – Bleierne Stadt“

 

Leipzig, 05.11. 2008

 

 

Sehr geehrte Damen und Herren, ich begrüsse Sie zur Vernissage des Comics „Berlin“ von Jason Lutes.

 

Comics sind ein urbanes Medium – und sie sind das in sehr viel stärkerem Ausmass als etwa Literatur, Theater oder das annähernd gleich alte Medium Film. Die ersten Comics, in der Form, wie wir sie heute kennen, entstanden um 1900 in New York. Sie entstanden aus dem Druck heraus, vom Vielvölkergemisch der Einwandererstadt verstanden werden zu müssen. Sie erschienen in Tageszeitungen, die damit nicht nur die englischsprachige Bevölkerung erreichen wollten, sondern auch die vielen, vor allem deutschen Einwanderer. Entsprechend nutzten diese frühen Comics eine sehr alltägliche Sprache, sie benutzten Gossenslang oder Worte aus vielen verschiedenen Sprachen. Und sie verwendeten Bilder.

 

Die Sprache des Comics – die Sprache der Bilder – entwickelte sich also aus der Notwendigkeit heraus, in einem babylonischen Sprachgewirr Verständnis zu finden.

 

In Folge blieb der Comic urban – ohne all zu weit abschweifen zu wollen, denke man nur an die Superhelden, deren Erlebnisse praktisch durchgängig in Großstädten spielen. In Japan sind Comics heute traditionell die bevorzugte U-Bahn-Lektüre. Und natürlich hat der Comic uns einige der bekanntesten Städte der Welt geschenkt. Metropolis, Heimat von Superman, Gotham City, Heimat von Batman, oder auch Entenhausen kennt jeder, obwohl niemand je dort war.

 

„Aus den Städten für die Städte“ ist damit das Motto, mit dem man das Medium Comic überschreiben könnte. Und damit ist angesichts der weiterhin voranschreitenden Verstädterung der Weltbevölkerung das Medium Comic auch das Medium, das selbst hundert Jahre nach seiner Entstehung immer noch am dichtesten am Geist der Moderne dran ist.

 

Anders gesagt: Comics sind die Sprache der Moderne.

 

Eines aber fehlte dem Comic bisher, und dieses Fehlen verwundert angesichts dieser Historie um so mehr. Ein wirklicher Stadtroman. Erst Jason Lutes hat jetzt diese Lücke gefüllt mit seiner Trilogie „Berlin“, deren zweiter Band jüngst erschien.

 

Dieses „Berlin“ ist kein Gegenwartscomic. Es spielt in den Jahren 1928 – 1933. Und schon auf den ersten Seiten macht Lutes klar, worum es ihm geht. Da treffen sich zwei Menschen im Zug: der Journalist Kurt Severing und die Kunststudentin Marthe Müller. Die zwei sind, wenn man so will, die Hauptfiguren des Comics. Aber sie sind nicht seine Helden. Schon auf den Seiten 9 und 10 wendet sich das Auge des Erzählers ab von den beiden Figuren. Man sieht den Zug einfahren. Lutes zeigt Berliner Bruchbuden, Abrißhäuser, Zerlumpte.

 

Auch beim folgenden Gang der zwei durch die Stadt schwenkt das Auge des Zeichners immer wieder ab – und nicht nur sein Auge, sondern auch seine Stimme: eine ganze Seite widmet Lutes etwa den Gedanken eines Ampelwärters an einer Kreuzung, eine weitere den Gedanken eines Aktmodelles, das vor Kunststudenten posiert. Und so geht das immer weiter. Die Erzählung wandert von Mensch zu Mensch. Manche von ihnen tauchen nur in wenigen Bildern auf – wie etwa der obdachlose Kriegsveteran, der im harten Winter 1929 erfriert. Andere, wie Kurt und Marthe, tauchen mehrmals auf und bilden lange Handlungsstränge.

 

Diese Erzählweise kennen wir aus der Literatur. Aus „Ulysses“ von James Joyce, erscheinen 1922, auf „Manhattan Transfer“ von John Dos Passos, erschienen 1925, und nicht zuletzt auf „Berlin Alexanderplatz“ von Alfred Döblin, erschienen 1929 – also exakt zum Zeitpunkt von Lutes‘ Geschichte.

 

Wir kennen sie kaum aus dem Comic. Und das, obwohl der Comic, dieses Compositum aus unzähligen stehenden Einzelaufnahmen, dafür prädestiniert wäre. Lutes greift diese klassische Erzählweise auf. Anders aber als für Joyce, dos Passos oder Döblin ist dies in diesem Kontext für ihn ungleich schwieriger. Lutes ist Amerikaner, er lebt in der Gegenwart seines Landes. Die ersten Kapitel für „Berlin“ entstanden, da hatte Lutes noch nie einen Fuss auf europäischen Boden gesetzt. Das und dass Jason Lutes gerade mal 40 Jahre alt ist, merkt man dem Comic freilich nicht an.

 

Lutes‘ Blick auf Berlin von bestechender Akkuratesse. Und das nicht nur, was die Darstellung der Stadt angeht. Für die griff er nicht nur auf Fotoquellen und alte Stadtpläne zurück, sondern auch auf gegenwärtige Quellen, auf Freunde in Berlin, die ihm Bilder schickten, und natürlich mittlerweile auch auf mehrere eigene Besuche in Berlin. Man kann dennoch nur bewundern, was Lutes aus der Ferne heraus geschaffen hat. In klaren Linien und scharfem schwarz-weiss-Kontrast zeichnet Lutes die spröde Architektur des alten Berlin genauer als je ein Künstler vor ihm in diesem Medium.

 

Aber nicht nur seine Häuser sind akkurat. Auch seine Menschen sind es. Lutes zeichnet Lutes ein Sozialpanorama von bestechender Genauigkeit. „Berlin“ spielt in unruhigen Zeiten. Mitten in den letzten Zügen der Weimarer Republik, in der Zeit von Hitlers Aufstieg und dem Verfall der Demokratie, von Wirtschaftskrise und sozialer Unruhe. Diese Zeit sehen wir aus dem Blickwinkel von Kurt und Marthe, aber auch des obdachlosen Schacheres Pawel, der Werksarbeiterin Gudrun, der jüdischen Familie Schwartz und vielen anderen. Aus den Lebenswegen, die sich immer wieder, wenn auch nur für Augenblicke, kreuzen, entsteht ein Sittenbild, das die Widersprüche der Zeit einfängt. Zwischen Kinderprostitution und der lebensfrohen Dekadenz der 20er Jahre, Kommunisten und Nazis, Neureichen und Depression.

 

Jetzt war hier viel von Literatur und Politik die Rede. Aber man sollte nicht vergessen, was „Berlin“ vor allem ist.

 

„Berlin“ ist ein Comic.

 

Und Comic, wie Lutes ihn versteht und wie er ihn zeichnet, entstand als eben Universalsprache im babylonischen Sprachgemisch der Großstädte. Und auch wenn Lutes Figuren nur Berliner Dialekt reden, so führt er doch das Medium Comic mit „Berlin“ an genau diese Wurzeln zurück. „Berlin“, das in der Vergangenheit spielt, ist ein Werk der Moderne, das in der Sprache der Moderne zu uns redet – der Sprache des Comics.

 

Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen und wünsche Ihnen viel Vergnügen dabei, diese Sprache zu betrachten.

 

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Nachtrag: Ursprünglich im Schlußteil Manuskript enthalten war ein weiterer Absatz, der – nach diversen Debatten – im Vortrag unter den Tisch fallen gelassen wurde. Er stand vor dem letzten längeren Absatz. Der Vollständigkeit halber hänge ich ihn hier an:

Und es will genau das sein. Wir hören in letzter Zeit immer wieder vom Begriff der „graphic novel“, vom „Comicroman“, in Verbindung mit anspruchsvollen Comics. Lutes selber empfindet diesen Begriff als [O-Ton] „seltsame Wortkombination“ und „nützlichen Marketingbegriff“.

6 Responses to “Vortrag ‚Berlin – Bleierne Stadt‘”

  1. Fr4nk says:

    Man sollte bzgl. der „Berlin“ Comics ev. noch erwähnen, das sich die Grafik des Comics in künstlersicher Hinsicht und im Detailgrad auf hohem Niveau bewegt, aber bedauerlicherweise in der vorliegenden Ausgabe viel zu klein geraten ist. Auch der Text ist so klein, dass er mitunter kaum lesbar ist. Ich vermisse leider in etlichen Rezensionen eine Beurteilung der Grafik bzw. der Darstelung und des Formats, den wichtigsten Elementen eines Comics und dem Hauptunterscheidungsmerkmal zum Roman.

  2. Stefan says:

    Es ist halt keine Rezension, sondern eine Vorstellung des Werkes im Rahmen einer Ausstellung und in Kooperation mit dem Verlag.

  3. anderer Frank says:

    Und, was sagste zum LVZ-Bericht zur Schaustellung?

  4. Stefan Pannor » Blog Archive » Was die andren sagen (01): Leipziger Volkszeitung says:

    […] Fangen wir an mit dem Bericht der Leipziger Volkszeitung über die Ausstellungseröffnung von Berlin – Bleierne Stadt. Autor ist Frank Schubert, und erschienen ist der Text am 07.11. 2008. Den vollständigen Text des Redemanuskriptes finden Sie hier. […]

  5. Stefan Pannor » Blog Archive » Aktuelle Comicrezension (125): ‘Berlin - Bleierne Stadt’ von Jason Lutes says:

    […] also Aufholtext #1 – wer ein sehr gutes Gedächtnis hat, erkennt mein Manuskript zu meinem Jason-Lutes-Vortrag in der Leipziger Moritzbastei als Grundlage für die […]

  6. Stefan Pannor » Blog Archive » Aktuelle Comicrezension (110): ‘Ikkyu’ says:

    […] « Vortrag ‘Berlin – Bleierne Stadt’ Was die andren sagen (01): Leipziger Volkszeitung » 06 11 […]