Tardi hat nichts damit zu tun.

Das könnte man ja bei mir erwarten, immerhin hat Tardi vier Nestor-Burma-Bücher ganz grandios als Comics adaptiert und dem Kanon sogar noch einen neuen Burma hinzugefügt: Blei in den Knochen, nach keiner Geschichte von Léo Malet, aber mit Erlaubnis des Autors. Das sind, wie fast alle Werke Tardis, Ausnahmecomics.

Aber … nein, so war das nicht.

Als Kind habe ich leidenschaftlich gerne Verlagsprospekte durchgeblättert (damals gab es das noch für den Endkunden in rauer Menge), es war das einzige, was vom unerreichbaren westdeutschen Buchmarkt gelegentlich bei mir ankam. Heyne, Diogenes, Rowohlt, Fischer … Sortiert nach Reihen, Namen von Autoren, Buchtitel, gelegentlich ein paar kryptische Anmerkungen oder eine nicht mal briefmarkengrosse Coverabbildung.

Und da war auch Léo Malet. Hinter jedem Buchtitel stand in Klammern oder kursiv „Roman aus dem 1. Pariser Arrondissement“, aus dem zweiten, dem dritten usw.. Eine Serie offensichtlich, und allein die Idee, dass da jemand seine Stadt in Viertel aufteilt und seinen Helden da nicht raus lässt, ehe der Roman vorbei ist, elektrisierte mich. Das wollte ich haben. Ich machte mein Häkchen an die Bücher – ich machte damals hinter ziemlich viele Bücher Häkchen, zu haben waren die für mich sowieso nicht. (Viele davon habe ich bis heute nicht.)

Bis zur Wende hatte ich den Malet und seine Pariser Krimis dann aber wieder weitgehend verdrängt. Andere Autoren wurden wichtiger. Malet freilich blieb aber im Hinterkopf, und wenn es sich ergab, nahm ich eines seiner Bücher mit, aus Antiquariaten oder Wühkisten. Aber es war nie besonders viel. Bis ich jüngst bei Zweitausendeins in der hiesigen Filiale einen Klotz von Buch entdeckte: Paris des Verbrechens – Nestor Burmas klassische Fälle. 1.200 Seiten, zehn Romane in einem Band, für zehn Euro – gekauft!

Und das hat sich gelohnt. Malet ist der Erfinder des Surrealismus im Krimi, so eine Art Bunuél des Pulp: wenn sein Privatdetektiv Nestor Burma auf den Kopf bekommt (und das bekommt er oft), dann wird ihm nicht einfach nur schwarz vor Augen. Dann glitscht die ganze Welt in seltsamen Träumen und Visionen unter seinen Füssen weg.

Aber nur dann. Ansonsten hat er immer ordentlich Pflaster unter den Füssen. Burma ist wie sein Zeit- und Stadtgenosse Maigret einer der Sohlengänger des Genres: er latscht seine Fälle ab, von Tatort zu Tatort, Leiche zu Leiche, Befragung zu Befragung, so lange, bis er einen Ansatzpunkt hat und den Fall aufdröselt. Er hat nur nicht ganz so viel Geduld wie Maigret, wenn er mit den Leuten redet. Burma fragt und bohrt und stösst und drängt, wenn es sein muss. Maigret handelt aus dem Bauch heraus, Burma auch schon mal aus dem Unterleib.

Alles in Paris. In den Arrondissements. Heute würde das darauf hinauslaufen, dass der Autor bei den Spaziergängen lang und breit die Stadt schildern würde, die Häuser, die Menschen. Nicht so Malet. Ein paar Strassennamen reichen, dann weiss jeder, wo er ist, und meistens spielt es ja sowieso keine Rolle, wie der Torbogen aussieht, unter dem die Leiche liegt.

Und da liegen viele Leichen, gleich im zweiten Roman so viele, wie das Buch Kapitel hat. Es wird also viel gestorben und der Tod dann trocken von Burma kommentiert. Überhaupt weisen die Bücher alle Merkmale des gepflegten Reissers auf: es gibt ein eingeschränktes Personal wiederkehrender Figuren (für den Leser besteht die ganze Pariser Polizei aus dem schnurrbärtigen Kommissar Faroux und die gesamte Pariser Presse aus dem frustrierten Covet). Es gibt eine hübsche, in den Chef verliebte Sekretärin. Und wenn eine andere schöne Frau auftaucht, ist sie entweder baldiges Opfer oder Femme Fatale oder beides. Nach 150 Seiten ist Schluss, dann sind alle Leichen verscharrt, alle Morde geklärt, Burma immer noch solo und um keine Erfahrung reicher, die er nicht auch vorher schon hatte.

Die hier enthaltenen Romane stammen aus dem Mittelteil von Malets Kriminalschreiberei – der Band beginnt mit dem ersten und endet mit dem 16. Arrondissement. Die Romane spielen zwischen 1955 und 1957. Zehn Bände und gut 15 Jahre Charakterentwicklung hatte Burma da eigentlich bereits hinter sich. Das muss man wissen, wenn man dem etablierten, warmgeschriebenen Burma zum ersten Mal im 1. Arrondissement begegnet. Die Anordnung der Bücher bei Zweitausendeins ist auch nicht ganz chronologisch. Ein paar Romane zwischendrin fehlen. Ein paar, die Malet hinten dran setze, ebenfalls. (Die Satzfehler, die sich stellenweise häufen, stammen vermutlich original aus den Fischer-Taschenbüchern, in denen diese Texte lange Zeit lieferbar waren.)

Nichts desto Trotz liegt mit diesem Wälzer knapp ein Drittel aller Burma-Romane vor, eine unvergleichliche Leichentruhe der Kriminallieratur. Das derzeit kein einziger Burma-Roman bei einem anderen Verlag frisch lieferbar ist, sollte ein Argument mehr sein, sich diesen Band unverzüglich zu holen.

Tardi also, wie gesagt, hat nichts damit zu tun. Aber das ist kein Argument, sich dieses Buch nicht sofort zu beschaffen.

9 Responses to “Die Leichen von Paris”

  1. molosovsky says:

    Malet ist einer meiner Krimigötter und ich habe ihn über die Ver-Graphiknovelisierung durch Tardi entdeckt (»120 Rue de la Gare«). — Zur Korrektur: Ursprünglich erschienen die deutschen Nestor Burma-Krimis bei Elster (gebunden, schöne Cover) und dann bei Rowohlt (Taschenbuch, nicht so schöne Cover). Gibt übrigens auch eine ganze Latte Nestor Burma-Romane, die nicht zu der Arrondissement-Reihe gehören, da sie kreuz und quer in der französischen Landschaft verteil sind.

  2. SvenT says:

    Stefan, das predige ich ja schon seit Ewigkeiten, dass Malet gelesen werden will!
    Und ja, die Elster-Ausgaben waren wunderschön, da hat molosovsky Recht.
    Jetzt musst Du aber noch „Rue de la Gare“ lesen. Und danach direkt nochmal die Tardi-Adaption.

    Und wenn die Malet-Romane am Stück dann doch mal etwas zu viel sind, lies einfach mal einen Manchette zwischendurch.

  3. Stefan says:

    *seufz* Können vor Bücher-haben. Du weisst ja vielleicht, wie das ist: man sollte sich gar keine Bücher mehr kaufen, man hat ja noch so viele ungelesene. Und dann sieht man den Malet-Ziegel …

    „120“ ist als Roman aktuell gar nicht lieferbar, soweit ich das sehe. Manchette dagegen inzwischen wieder, da hoffe ich mal auf eine Zeit- oder Budgetlücke.

    Aktuell will ich mich die Woche doch nochmal an die letzten dreihundert Seiten von David Peaces grandiosem Red-Riding-Quartett machen.

  4. LuG says:

    Also: Die Nestor-Burma-Romane teilen sich in zwei Serien.
    1. Die neuen Geheimnisse von Paris (mit den durchnummerierten Arrondissements)
    2. Der Mann, der das Geheimnis k.o. schlägt

    Die erste Serie dürfte bei Elster und rororo (so häßlich fand die Titelbilder von Detlef Surrey übrigens gar nicht!) komplett vorliegen.
    In der zweiten gibt es auf Deutsch immer noch böse Lücken. Sollten die jetzt etwa mit dieser neuen Ausgabe geschlossen werden? Schön wär’s ja.

    Eine halbwegs brauchbare Bibliografie findet sich hier: http://fr.wikipedia.org/wiki/L%C3%A9o_Malet
    Vor Jahren haben die beiden ehemaligen US-Agenten von Moebius, die Brüder l’Officier, mal eine großartigen Malet-Bibliografie auf ihrer Webseite gehabt; die finde ich aber nicht so ad hoc.

    Bei Malet hatte ich allerdings nach drei am Stück gelesenen Romanen die Faxen dicke. Manchette dagegen – dessen Werke ja ähnlich dünn an Seiten sind – kann man sich encht am Stück rein ziehen. Wer länger als zehn Tage für das Gesamtwerk braucht, der ist ein Looser!

  5. Stefan says:

    Nein. Zweitausendeins hat (wie üblich) ausschliesslich bereits vorliegende Sachen neu aufgelegt. Die Lücken – vor allem im Spätwerk – bleiben also.

    Und es ist wie gesagt der einzige (!) derzeit neu auf deutsch erhältliche Burma-Band (laut Amazon). Erhältlich sind sonst nur noch zwei Nicht-Burmas. Alles andere ist nur noch antiquarisch zu kriegen. Und ich fürchte, bei diesem Zustand wird es auch bleiben.

  6. SvenT says:

    Gute Nachricht!

    Malet und Burma haben eine neue deutsche Adresse. Bei Distel, da, wo auch Manchette zu finden ist:
    http://www.distelliteraturverlag.de/autor/66

  7. molosovsky says:

    @LuG: Wer schrieb was von ›hässlichen‹ RoRoRo-Covern? Ich schrieb »Elster: schöne Cover« und »RoRoRo: nicht so schöne Cover«.

    @SvenT: Nach das ist mal ne gute Nachricht!

    Und dieser Manchette … hmmmm, sehr interessant. Ich spüre eh, wie wieder eine längere Nicht-Phantastik-Phase sich meiner nähert.

  8. Stefan Pannor » Blog Archive » Aktuelle Comicrezension (179): ‘Tod auf dem Nil’ & “Sind Sie tot, Madame?’ says:

    […] aber ein Vorbild hat: den französischen Roman Noir mit Autoren wie Leo Malet, dessen Detektiv Nestor Burma durch eine umfangreiche Albenserie von Jaques Tardi auch im Comic einen großen Bekanntheitsgrad […]

  9. Stefan Pannor » Blog Archive » Gratis-Comic-Tag 2014 (03) says:

    […] Weltkrieg und vor den Sechzigerjahren durch Autoren wie Leo Malet entwickelte. Dessen Detektiv Nestor Burma hat ja nicht zuletzt in der Comicszene durch eine umfangreiche Albenserie von Jaques Tardi einen […]