Heute gleich noch eine Albenrezi (bzw. sogar zwei davon). Dass sich Alben bei meinen Rezensionen so häufen, spiegelt durchaus den Markt wieder, der sich in den letzten zwei Jahren verblüffend gewandelt hat. Wobei man diese Wandlung kritisch sehen sollte: während einerseits die Zahl der Neuerscheinungen frankobelgischer Alben signifikant zugenommen hat (ich vermute mindestens eine Verdreifachung), geht dieser Trend andererseits zu einem ganz starken Teil auf kleine und mittelgroße Verlage zurück, die völlig anders kalkulieren als große Verlage – mit weniger Betriebskosten und demnach auch mit kleineren Auflagen, um den Gewinnpunkt zu erreichen.

Es sind also in der Tat wieder mehr Alben-Comics geworden, die in Deutschland erscheinen – man sollte deshalb allerdings nicht annehmen, dass die Käuferschaft größer geworden ist. Sehr viel eher hat sich in einem inzwischen jahrzentelangen Ausleseprozeß eine kleine Zielgruppe extrem kaufkräftiger Kunden heraus kristallisiert (Comics sind nun einmal meist teuer, so daß weniger gut betuchte Leser irgendwann als Käufer abspringen müssen), die das Rückgrat für diese Albenproduktion bilden und die jedes Album zu fast jedem Preis kaufen.

Sollte dies der Fall sein, tanzen die Albenverlage auf einem dünnen Eis – bereits das Wegbrechen einiger weniger Kunden könnte signifikante Umsatzeinbußen zur Folge haben.

U.a. aus diesem Grund zielen Verlage wie Splitter den Buchhandel an – u.a. mit handlichen und voluminösen Titeln wie India Dreams und Paradise. (Womit der Bogen zum heutigen Adventskalender-Türchen geschlagen wäre. Der Text enstand natürlich für die Leipziger Comic Combo.)

(Mehr zur Situation des deutschen Comicmarktes hier.)

Benoit Sokal/ Brice Bingono
Paradise

&

Maryse & Jean-Fracois Charles
India Dreams

Der Tiger starrt die Europäerin durch die Gitterstäbe an, erst traurig, dann zähnefletschend.Ann Smith ist in Afrika gestrandet, seit ihr Flugzeug abstürzte, weiss sie selbst nicht mehr, was sie auf dem Kontinent will. Der gefangene Tiger und die entwurzelte Ann unternehmen eine Odyssee, die der jungen Frau helfen soll, zu sich selbst zu finden.

„Paradise“ von Benoit Sokal und Brice Bingono schildert ein völlig ausser Kontrolle geratenes Afrika, in dem Despoten herrschen und Putschisten diese zu stürzen versuchen, in dem wenig unglaublicher Reichtum und viel unfassliche Armut, eine ganze Menge Chaos und Platz für jede Gefahr ist.

Leider gelingt es ihnen nicht, aus diesem vertrauten Ansatz einen spannenden Comic zu machen. Benoit Sokal, hierzulande grade noch so einer Gruppe Eingeweihter als Autor und Zeichner des Krimi-Comics „Inspektor Canardo“ bekannt (dt. bei Schreiber & Leser), hat „Paradise“ von seinem eigenen PC-Game gleichen Namens adaptiert – dies aber offenbar lieblos. Die Dialoge sind nüchtern und funktional, lassen Sokals geschliffenen Sarkasmus vermissen, der Handlungsverlauf träge und von Klischees bestimmt.

So passiert es, dass der Band, selbst wenn man ihn nicht mit anderen Werken des gleichen Autors vergleicht, ein Gefühl des nicht-erfüllten Versprechens hinterläßt. „Paradise“ müht sich als Abenteuergeschichte von Station zu Station einer nur zu bekannten gefahrvollen Reise, die von Newcomerzeichner Brice Bingono in glatten, gefälligen, deutlich die Attraktivität der Hauptdarstellerin in den Vordergrund rückenden Zeichnungen umgesetzt wird. Dass am Ende der Queste alles gut ausgehen wird, ist nicht überraschend, sondern nur zu vorhersehbares Ergebnis dieser dadurch eher mäßig interessanten Reise.

Keine Adaption eines Spiels, gleichwohl auch nicht ganz auf dem eigenen Mist gewachsen ist „India Dreams“ des Kreativ-Paares Maryse und Jean-Fracois Charles („Die Pioniere der neuen Welt“). Vor allem im ersten Teil der Geschichte, die ebenfalls von einer suchenden Frau handelt, zitieren sie ausgiebig Settings, Einstellungen und Figuren aus David Leans Film „Reise nach Indien“.

Davon schwimmt sich das Comicpaar im weiteren Verlauf der Geschichte frei. Trotzdem bleibt auch dieses Buch diversen eher lästigen Konventionen verhaftet, was ihm viel an Spannung raubt. Die junge Britin Emily wandelt in der Nachkriegszeit in Indien auf den Spuren ihrer Mutter, begleitet von ihrem indischen adeligen Liebhaber Jarawal und auf den Spuren des Privatlehrers Lowther, der mehr über die Familie weiss.

Dabei gibt es diverse Begegnungen mit Aufständischen, aber natürlich auch Besuche in Bengasi, dem Taj Mahal und den Gegenden des Vor-Himalaya, die wie in einer gewaltigen touristischen Rundreise durch Indien abgeklappert und in die Handlung eingebunden werden. Das Drama um Familiengeheimnisse und Inzestanspielungen springt unbekümmert quer über den ganzen Subkontinent – in Zeiten der Dampflokomotive gewaltige Entfernungen!

Insgesamt gibt „India Dreams“ mit dieser reisekatalogfreundlichen Erzählweise vor allem ein romantisches Bild Indiens, erreicht infolgedessen aber insbesondere im Zusammenhang mit diversen eher peinlichen Nackt- und Sexszenen den Eindruck einer gewissen Schwülstigkeit (die von einigen steifen Dialogen auch nicht abgemildert wird). Immerhin binden die Erzähler die historischen Ereignisse des allmählich den britischen Kolonialismus abschüttelnden Landes korrekt ein. Und die Zeichnungen sind zwar gefällig, durch sanfte Farbverläufe und Pastelltöne aber nicht ohne Reiz. Insgesamt kann „India Dreams“ damit als passabel kurzweilige, nett anzublickende Geschichtsstunde und häufig zu geschönte Liebeserklärung an ein einmaliges Land gelten.

Beide Miniserien erschienen im französischen Original als großformatige Alben, wurden in Deutschland vom neuen Splitter-Verlag aber als handliche und überaus schicke Sammelbände im US-Format veröffentlicht. Das wunderbare Format und die Gestaltung der Bücher stechen in beidne Fällen den mittelmäßigen Inhalt leider um Längen. (stefan pannor)

Beide Bücher: Splitter-Verlag, je 208 S.; je 24,80 €

One Response to “Akuelle Comicrezension (142): ‚Paradise‘ & ‚India Dreams‘”

  1. Stefan Pannor » Blog Archive » Ich habe Eva Brauns Möse gesehen, und sie war rasiert says:

    […] den die Autoren an den Tag legen. Es zeigt, dass es gar nicht so sehr um den realen Krieg geht. Bereits bei ihren vorherigen Comics haben die Charles, das hier fungierende Zeichner- und Autorenehepaar, einige Marotten an den Tag […]