Zitty 10/ 2007 Am 22. Mai 1907 kam Georges Remi alias Hergé zur Welt, der heute allgemein als Vater des europäischen Comics betrachtet wird. Das größte Berliner Stadtmagazin zitty widmet dem Thema fünf (!) Seiten in der aktuellen Ausgabe. Der Beitrag, eine Mischung aus Essay und Interview mit dem britischen Hergé-Experten Michael Farr, stammt von mir.

Hier als Anreisser der Anfang des Textes direkt aus meinem Manuskript. Sämtliche eventuellen Fehler wurden in der Druckversion natürlich vom Redakteur herauslektoriert. Ein knapp 25% längerer „Director’s Cut“ des selben Artikels wird demnächst auch im Fachmagazin Comixene erscheinen.

Der Mann, der die Welt aufräumte
100 Jahre Hergé. Eine Betrachtung und ein Gespräch mit dem britischen Tintinologen Michael Farr

von Stefan Pannor

Der Weg aus der Realität ist leicht. Man nimmt einen Flug von Brüssel via Frankfurt, steigt in Prag um und besteigt dort eine der wenigen kleinen Maschinen, die den geringen Tourismusverkehr des Zwergstaates Syldavien mit dem Rest der Welt aufrecht erhalten.

Ein Besuch lohnt sich. Syldavien, eine idyllische Monarchie mit 64.000 Einwohnern und dem Hauptproduktionsartikel Mineralwasser, gilt immerhin als erster Staat, der eine bemannte Rakete zum Mond geschickt hat. Über ein Jahrzehnt vor den Appollo-Missionen der USA übrigens. Die riesige Abschussrampe und die rot-weiß-karierte Rakete können vermutlich heute noch besichtigt werden.

Hergé So schnell ist man in der Welt von Georges Remi. Hergé, wie sich der Brüsseler Comiczeichner, der vielen heute als Vater des europäischen Comics gilt, für seine Bildgeschichten nannte. Ein Wortspiel: aus den umgekehrten Initialen R und G wurde Hergé.

Es war vor allem die Welt von Tim & Struppi (oder Tintin & Milou, wie es im Original viel sanfter heißt), die Hergé 1929 erfunden hatte und die anstatt ihrer Leser und auch des Künstlers selbst die Welt bereisten. Die echte Welt. Oder doch die fiktive Welt im Kopf des Georges Remi? Die Grenzen sind so schwer zu fassen wie jene zwischen der Tschechoslowakei und Syldavien, das man nicht nur wegen seiner Winzigkeit vergeblich auf Landkarten sucht.

Als Remi am 22. Mai 1907 in einem Brüsseler Vorort zur Welt kam, gab es noch keinen europäischen Comic. Während in den USA ab der Jahrhundertwende Zeitungsstrips von Little Nemo bis Buck Rogers das Bild der Bildgeschichte prägten, hielt man in Europa allgemein noch am von Wilhelm Busch geprägten Schema fest: Erzähltext und Illustration liefen getrennt.

Der Amerika-Fan Hergé war zwar nicht der erste europäische Comiczeichner, der die in Künstlerkreisen damals verachteten „Sprechbeutel“ in Bildergeschichten übernahm. 1925 war ihm Alain Saint-Ogan damit zuvorgekommen. Zu dem Zeitpunkt sah sich Hergé vor allem als aufstrebender Illustrator. Seit seinem 17 Lebensjahr belieferte er, selbst ein begeisterter Pfadfinder, die Zeitschrift Le Boyscout belge mit Titelbildern und Zeichnungen. Mit 20 leistete er er seinen Militärdienst ab, mit 21 gehörte er zum festen Stamm des Magazin Le XX. Siecle (Das 20. Jahrhundert), für das er in den Folgejahren das Gros aller Illustrationen übernahm.

Chefredakteur des Siecle war der Abbé Norbert Wallez, ein reaktionärer, rechtsradikaler Bolschewistenfresser. Er war es auch, der Hergé zu Tim & Struppi anregte, nachdem dieser bereits mit Totor eine beim Publikum wohlgelittene Bildgeschichte über Pfadfinder im Heft lanciert hatte. Wallez wollte eine Geschichte über die Sowjetunion, natürlich eine nach seinen politischen Vorstellungen. Also versorgte er Hergé mit entsprechendem Propagandamaterial, während Remi allein für die Geschichte zuständig war. Dem waren kurz zuvor ein paar Comicbeilagen amerikanischer Zeitungen in die Hände gefallen – und daran orientierte er sich.

Tim Lande der Sowjets Tim im Lande der Sowjets hieß das erste Abenteuer, das ab dem 10. Januar 1929 in Le Petit Vingtieme, der Jugendbeilage des Siecle, wöchentlich bis Mai 1930 ununterbrochen lief.

Da waren dieser angebliche Reporter Tim, der doch mehr aussah wie ein Pfadfinder und sich auch so benahm, und sein Hund Struppi, die durch ein Land der begrenzten Unmöglichkeiten reisten.

Da gab es potemkinsche Fabriken, eine hungernde Landbevölkerung und gefälschte Wahlen. Es gab aber auch hungrige Bären, Unterwassergefängnisse, große Dynamitlager und Geheimagenten auf den intellektuellen Level der Keystone Cops. Es gab vor allem also viel Action. Hergé schickte seinen Helden, wenn auch oft noch ungelenk gezeichnet, durch ein atemloses Abenteuer, an dessen Ende die Flucht in einem Kleinflugzeug steht – natürlich erst, nachdem Superpfadfinder Tim den Propeller selbst geschnitzt hat.

Das war, ohne daß es jemand wußte, die Geburtstunde des europäischen Comics.

Tim & Struppi
zitty 10/ 2007 mit dem vollständigen Text ist noch bis nächsten Mittwoch an vielen Verkaufsstellen in Berlin sowie bundesweit im Bahnhofsbuchhandel erhältlich und kostet € 2,70.

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