Sein Leben war nichts besonderes, aber er machte 2.000 Seiten Comics daraus. Mit unerschütterlicher Wut berichtete Harvey Pekar von seinem Leben in der amerikanischen Unterschicht und bereicherte den Comic damit um ein völlig neues Genre.

Zu Harvey Pekars Tod
Das Leben, ein Comic

von Stefan Pannor

Vielleicht war es die beste Idee, die dem Comic diesseits des Zweiten Weltkriegs passieren konnte: die Vorstellung, aus dem eigenen Leben eine Geschichte zu machen. Selbst wenn es, wie bei Harvey Pekar, das Leben eines einfachen Angestellter mit mäßiger Bildung und ohne außergewöhnlichen Lebenslauf war.

Harvey Pekar - American SplendorDas Genre des autobiographischen Comics, wie Pekar es erfand, bereicherte das Medium um eine weitere Komponente und gab ihm zwischen eskapistischen Machtfantasien, harmlosen Gags und barocken Kunsterzählungen die dringend benötigte Erdung zurück.

„American Splendor“ nannte Pekar seine Comicserie, Amerikas Herrlichkeit. Sarkasmus pur. „Von den Straßen Clevelands“ war der Slogan, der auf jedem seiner Hefte prangte, und das hiess in dem Fall, aus der sozialen Notstandszone, aber auch aus der scheinbaren Belanglosigkeit der amerikanischen Unterschicht.

Robert Crumbs Kumpel

Pekar war kein Comicfan. Er war ein Liebhaber von Jazz und Malerei, manischer Schallplatten- und Büchersammler. Sein Studium hatte der 1939 geborene nach nur einem Jahr geschmissen. Mit Ausnahme seiner Zeit in der Armee hatte er sein ganzes Leben in Cleveland verbracht, ab den Sechzigerjahren als Angestellter eines Krankenhauses. Krankenakten sortieren war sein Job.

Zum Comic kam er, weil Robert Crumb eine Ecke weiter wohnte. 1962 war Crumb, damals noch lange nicht der Star des amerikanischen Underground-Comics, der er später werden sollte, nach Cleveland gezogen, wo er Glückwunschkarten textete und zeichnete. Über Bekannte lernte er Pekar kennen. Crumb und Pekar verband die Liebe zum Jazz. Crumb führte den unauffälligen Angestellten in die Welt der gerade erblühenden alternativen Comics ein, der gezeichneten Gegenkultur zu Superman und Co.

Für Pekar, der selbst nicht zeichnen konnte, war es eine Offenbarung. Er überredete erst Crumb, dann andere Comiczeichner, Comics direkt nach Pekars Leben zu gestalten. 1976 erschien die erste Ausgabe von „American Splendor“. Ein Vierteljahrhundert lang folgte jährlich eine weitere.

Pekars Vorstellung vom Comic, wie er sie in seinen Heften zelebrierte, fügte sich in die Gegenkultur der Sechziger- und Siebzigerjahre. Er ignorierte nahezu alle Vorstellungen davon, wie ein Comic zu sein hatte. Seine Geschichten waren häufig nicht einmal solche. Sie begannen und endeten an beliebigen Zeitpunkten in Pekars Leben, bestanden mitunter seitenweise aus Wutausbrüchen und Monologen Pekars über seinen Alltag, die Gegenwart, Amerika.

Sogar für die Gegenkultur zu sperrig

Harvey Pekar - Robert CrumbSelbst Crumb, der mit ähnlichen Konzepten arbeitete, gab zu, dass Pekars Geschichten schwer zu illustrieren seien: „Es ist so wenig comicheft-typische Action darin, in die der Künstler sich verbeissen kann. Größtenteils sind es nur Leute, die herumstehen und reden.“

Damit stellte sich Pekar nicht nur gegen den von Superhelden getragenen Mainstream der nordamerikanischen Comics. Selbst für die Gegenkultur, in der Robert Crumbs groteske Comics sich millionenfach verkauften, waren die Erzählungen des zornigen mittelalten Mannes Pekar aus dem ganz normalen amerikanischen Berufsleben zu sperrig. Pekar selbst gab später nicht ohne Stolz an, nie mit auch nur einem einzigen Heft von „American Splendor“ Geld verdient zu haben.

Seinen Mitteilungsdrang minderte das nicht. „Ja, er ist ein Ego-Maniac, ein klassischer Fall … ein besessener, zwanghafter, irrer Jude“ beschrieb ihn Crumb später. Mit unermüdlicher Energie überzeugte er Comiczeichner, für einen Hungerlohn für ihn zu arbeiten. Geschichten, die von seinem Umzug handelten, vom Einkaufen, vom schwarzen Kollegen, mit dem er zu Mittag ass.

Das Ergebnis war möglicherweise nicht nur die umfangreichste Comic-Autobiographie als Work in Progress (später sollten sich zu den Heften noch Bücher gesellen), sondern Urknall und Maßstab für eine neue Art Comic. Das Genre des autobiographischen Comics, das seinen Schwerpunkt auf Alltägliches statt auf Besonderes setzt, steht heute neben dem Superhelden-Comic als das vielleicht einzige originäre Konzept, das das Medium hervorgebracht hat. Künstler wie Marjanne Satrapi („Persepolis“), Chester Brown („Fuck“) oder in Deutschland Flix („Heldentage“) sind Nachgänger von Pekars Idee.

Unermüdliche Wut

Harvey Pekar - Our Cancer YearDabei sind nur wenige so radikal, wie Pekar es war, der nahezu sein gesamtes Leben in Comics umsetzte. In seinen besten Momenten hatte „American Splendor“ die alltagsnahe Wut des frühen Hip-Hop und Punk, die direkte Eindringlichkeit in einfachen Stilmitteln der Texte Bukowskis. Für Pekar war alles Comic. Als er an Krebs erkrankte, machte er daraus eine umfangreiche Comic-Chronik („Our Cancer Year“). Als 2003 in einem Fall von spätem Ruhm Pekars Comicleben unter dem Titel seiner Hefte verfilmt wurde, reagierte Pekar mit der Graphic Novel „Our Movie Year“.

Beinahe 2000 Comicseiten umfasst Pekars Leben. Auf Deutsch ist davon beinahe nichts erschienen, nur einige der Episoden mit Robert Crumb in diversen Sammelbänden. Pekar, der unermüdliche Chronist der amerikanischen Unterschicht aus eigenem Erleben, war scheinbar auch für den deutschen Markt zu sperrig.

2001 ging Pekar in Rente. Mit den Comics war es da allerdings noch nicht vorbei. Seine Geschichten erschienen ab sofort beim amerikanischen Edel-Label Vertigo und als voluminöse Buchausgaben bei Ballantine. Sein letztes Buch, simpel „Cleveland“ betitelt, sollte ursprünglich dieser Tage erscheinen. Nun wird es posthum Pekars Abschiedsvorstellung. Der Autor wurde gestern in seiner Wohnung tot aufgefunden. Er hinterlässt eine Ehefrau und eine Ziehtochter.

2 Responses to “SPIEGEL-Online: Das Leben, ein Comic – Zum Tod von Harvey Pekar”

  1. Stefan Pannor » Blog Archive » Kerouac, Wiki-Style says:

    […] Das Leben, ein Comic – Zum Tod von Harvey Pekar […]

  2. Stefan Pannor » Blog Archive » Dem Krieg nachzeichnen. Zum Tod von Joe Kubert says:

    […] Das Leben, ein Comic. Zum Tod von Harvey Pekar […]