Als 1998 Stéphane Heuets erster Band seiner Comicadaption von Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ erschien, schäumten die Kritiker. Von „Blasphemie“ war die Rede, vom literarischen „Mord“ am 1922 verstorbenen Proust, von der „Travestie“. Zurecht?

Unbestreitbar war der erste Band von Heuets Comic, „Combray“, ein noch recht halbgares Experiment. Der Versuch, die wenige Handlung aus dem umfangreichen Schinken (mehr als 4.000 Seiten in sieben Bänden umfasst der gesamte Romanzyklus) in Bilder zu destilieren und gleichzeitig Prousts Sprache in umfangreichen Zitaten zu bewahren, musste die Kritik gradezu herausfordern.

Denn „Combray“, das die Jugend des anonymen Ich-Erzählers im gleichnamigen französischen Städtchen schildert, besteht vor allem aus der anekdotischen Aneinanderreihung von Ereignislosigkeit. Ausgelöst durch winzige Reminiszenzen wie einen Traum oder den Geschmack eines Stücks Gebäck, versucht der Erzähler sich an die schwülen Sommer zu erinnern, die er als Knabe in Combray verbracht hat. Vor allem lesend in einer winzigen Hütte verkrochen oder damit, den Erwachsenen bei ihrem undurchschaubaren Treiben zuzusehen.

Heuet visualisiert die dürre Handlung in einer Vielzahl Einzelbilder von fast naiver Direktheit. Wenn der Erzähler über Spargel sinniert, ist Spargel zu sehen. Regen, bei Proust ein fast mythisches Ereignis, ist Regen. Die Vieldeutigkeit des Originaltextes bricht auf Eindeutigkeit herunter. Gewaltige Erzähl- und Dialogkästen mit Proust-Auszügen pflastern zudem die Seiten zu. Vom Comic, wie man ihn heute versteht, ist das in der Tat meilenweit entfernt.

Dass „Combray“, gerade in seiner erzählerischen Unausgereiftheit, trotzdem eine Menge Schauwert besitzt, liegt daran, dass Heuet sich an Hergé orientiert, dem Schöpfer von „Tim & Struppi“. Dessen Bildgeschichten wirken in ihrer aufgeräumten Klarheit wie die Gegenthese zu von Prousts barocken Schwelgereien. In Hergés „ligne claire“ („klare Linie“) genanntem Zeichenstil geht es darum, das Bild so weit wie möglich von allem Unnötigen zu befreien.

Heuet nutzt das Konzept der ligne claire für eine deteilgetreue, atmosphärisch dichte Rekonstruktion der Jahrhundertwende. Doch es ist nicht so sehr der Anblick der reizvollen Dekors, der penibel recherchierten Details, der begeistert. Es sind vor allem die weiten, offenen Landschaftsdarstellungen, die im kühlen, minimalistischen Stil der „ligne claire“ einen ganz eigenen Reiz entfalten. „Versuchen sie immer ein Stück Himmel über Ihrem Leben zu haben“, rät ein Monsieur Legrandin dem Erzähler. Bei Heuet ist dieser Himmel immer da. Die Proust-Lektüre wird bei weitem optimistischer, auch weil Heuet die komischen und sentimentalen Stellen des Originals klarer herausarbeitet.

Weil Heuet sich nach dem schwächelnden ersten Band mit jeder Ausgabe gesteigert hat, sind die Kritiker seit 1998 weitgehend verstummt. Fünf Bände später gilt der einstige Buhmann als literarischer Großtäter des Comic.

Stéphane Heuet/ Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Knesebeck, 72 S.; € 19,90

Gekürzte Fassung des Artikels für SPIEGEL-Online. Erstellt im Herbst letzten Jahres für die Comic Combo Leipzig.

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