Er war der Meister der Wiederholung: Winsor McKay, dessen Comicstrips in der Regel stets die gleiche Pointe hatten. Das war nicht Redundanz, das war Erkundung der Möglichkeiten des Mediums. Wie brillant er darin war, zeigt sogar ein relatives Nebenwerk wie „Little Sammy Sneeze“, das darum jetzt in einer prachtvollen deutschen Ausgabe gefeiert wird.

Wie formelhaft ist das denn? In immer sechs immer gleich großen Bildern sehen wir die immer gleiche Geschichte: wie der fünfjährige Sammy Schritt für Schritt auf einen Niesanfall zusteuert, der sich schließlich im vorletzten Bild zu einer alles zerstörenden Explosion entlädt. Regelmäßig im sechsten Bild ereilt ihn dafür die Strafe, gern ist das ein Tritt in den Allerwertesten zur Tür raus.

80 Seiten geht das so, und nicht trotz, sondern gerade wegen seiner Formelhaftigkeit ist „Little Sammy Sneeze“, erschienen von 1904 bis 1907, ein Klassiker. Was Winsor McKay, der nebenher als Werbegrafiker und Vaudeville-Künstler arbeitete, in diesem sehr frühen Comic getan hat, war nichts anderes, als mitzuhelfen, die Sprache des Mediums überhaupt zu erfinden. Das ging nicht immer glatt ab. Die in der Regel bis zum Rand vollgequetschten Sprechblasen, wild über die Bilder verteilt, zeugen von einer Unsicherheit im Umgang mit Sprache, die typisch ist für nahezu alle Comics dieser Zeit.

Indem er aber immer wieder die gleiche Situation durchexerziert und lediglich den Hintergrund für seine Schnäuzereien ändert, erfindet McKay nicht nur den Running Gag, sondern erforscht die Möglichkeiten des noch jungen Mediums ganz grundlegend. Das heisst zuerst mal: von anderen lernen.

Vom Film übernimmt er die Möglichkeit, einen Moment in möglichst viele Einzelbilder aufzulösen. Von der bildenden Kunst, und hier vor allem vom Jugendstil, den plakativen Einsatz von Farbe, die Eleganz der bildlichen Reduktion sowie das Dokumentarische des Strips, der sehr genau Mode, Verhaltensweisen und Lebenskultur seiner Zeit widerspiegelt. Er experimentiert mit Parallelmontage und lässt Figuren aus seinen anderen Comics auftreten.

In gleich mehreren Episoden dringt McKay in die Metaebene vor. Sammy, der beim Opa auf dem Schoß sitzt, bekommt die Zeitung vorgelesen – natürlich die Comicseite. „Schau mal, Sammy, das bist du und niest.“ Und Sammy niest. Der letzte historisch nachgewiesene Strip löst die Serie sogar ganz auf. Sammys Nieser ist so heftig, dass es die Bildumrahmungen zerfetzt. Weil es aber kaum ordentliche Zeitungsarchive aus dieser Zeit gibt, ist nicht sicher, ob damit der Strip tatsächlich aufhörte.

Heute kennt man Winsor McKay vor allem für seine ab 1905 erschienene Stripreihe „Little Nemo in Slumberland“. Die Odyssee des Knaben Nemo durch ein bizarres Traumreich ist immer noch von unerreichter Opulenz, jede der über 400 Seiten ist aufwändig wie ein Poster gestaltet. Dagegen nimmt sich „Little Sammy Sneeze“ mit seinem geringen Umfang und der starren Struktur nicht nur unauffällig aus, sondern wie die inhaltliche Antithese dazu.

Jedoch: Wo „Little Nemo“ mit seinen Traumwelten von Realitätsflucht handelt, ist „Sammy Sneeze“ ein Rebell. Mühelos lassen sich seine zerstörerische Niesattacken als Angriff auf die Gesellschaft lesen: Hüte und Perücken fliegen in die Luft, Häuser werden zerstört, der Sonntagsstaat zerfetzt. Wohlhabende Menschen landen im Dreck, und das schwarze Dienstmädchen wird so lange mit Mehl eingeniest, bis es weiß ist.

Der Bocola-Verlag, der sich durch eine herausragende Edition der „Prinz Eisenherz“-Serie einen Namen machte, hat den vergessenen Klassiker ausgegraben, mehr noch, erweitert. Durch umfangreiche Recherche liegen in der deutschen Buchausgabe Seiten vor, die selbst im Mutterland des Strips, den USA, seit ihrem ersten Erscheinen nie wieder nachgedruckt wurden. Das Buch ist damit die weltweit vollständigste Ausgabe dieses richtungsweisenden Comics.

Bocola, 80 S.; € 19,90

Gekürzte und bearbeitete Fassung des Artikels für die Frankfurter Rundschau, in dieser Version erstellt im Herbst 2010 für die Comic Combo Leipzig.

One Response to “Aktuelle Comicrezension (169): ‚Little Sammy Sneeze“ von Winsor McKay.”

  1. Stefan Pannor » Blog Archive » Der Rest vorm Fest (02): “Lance” & “King Aroo” says:

    […] “Little Sammy Sneeze” […]