Sehr geehrte Damen und Herren,

wenn Sie mich fragen, wo derzeit der deutsche Comic stattfindet, müsste ich sagen: im Internet. Das heisst nicht, dass es nicht ganz hervorragende Künstler einheimischer Provenienz gibt, deren grafische Erzählungen gedruckt erscheinen. Im Gegenteil, noch nie gab es so viele großartige Comicbücher gestaltet von deutschen Autoren und Zeichnern.

Das alles ist freilich nichts gegen die kreative Explosion, wie sie aktuell im Netz zu beobachten ist.

Wer sich mit dem Onlinecomic deutscher Herkunft beschäftigen will, sieht sich schnell mit einem schier unüberschaubaren Angebot konfrontiert. Comicstrips, Superhelden-Fotodramen, Fan-Mangas, Graphic Novels als work in progress, oder Formate, die sich – wie Daniel Lieskes Endlos-Panel „Wormworld“ – jeder Kategorisierung entziehen, werden auf einem zum Teil verblüffend hohen Niveau präsentiert.

Comics im Internet sind schon lange nicht mehr der kleine Bruder des „richtigen“ Comics, der nur keinen Verlag findet. Sondern sie bilden eine eigenständige, vielfältige Kultur, die von charmantem Dilletantismus bis atemberaubender Perfektion alles zu bieten hat.

Ein Format hat sich dabei als besonders dominant erwiesen. Der Tagebuch-Strip, wie er vor mehr als zehn Jahren von dem amerikanischen Comiczeichner James Kochalka für dessen Comicblog erfunden wurde. In vier Panels skizziert Kochalka täglich ein Ereignis aus seinem Leben und stellt es meist am selben Tag online. Das Ergebnis ist manchmal komisch, manchmal melancholisch, oft schlicht banal – aber gerade in dieser Banalität ehrlich.

Der kurze Happen Leben, den Kochalka als erster präsentierte, hat inzwischen weltweit Nachfolger gefunden. In Deutschland sind es Comicblogs wie der letztjährige Sondermann-Gewinner „Beetlebum“ oder „Heldentage“ von Flix, die diese Idee aufgegriffen haben.

Dabei fand allerdings ein Paradigmenwechsel statt. Wo Kochalka auf gnadenlose Offenheit als Konzept setzte, funktionieren letztgenannte Strips – und eine Vielzahl mehr – eher als Gag-Comic, die mit satirischen Überhöhungen und ganz oder teilweisen Fiktionen arbeiten und häufig an eine zwangsläufige Pointe gebunden sind.

Asja Wiegands Comictagebuch – und hier komme ich jetzt endlich zu dem Grund, weshalb diese Rede gehalten wird – ist da anders. Seit 2008 veröffentlicht sie ihre täglichen Beobachtungen des eigenen Daseins unter dem Titel „Gestern noch“ im Netz. Schon mit dem Titel greift sie das Aktualitätsprinzip auf, die Darstellung des weitgehend unreflektierten, blanken Seins.

Auch ihre Comics umfassen, genau wie Kochalkas Vorbild, nahezu immer vier Panels. Genau wie Kochalka ist ihr Comic eher als Tagebuch zu begreifen statt als Erzählung. So wie Tagebücher in der Regel ausschließlich für den Autor entstehen und so befreit sind vom Zwang zur Erklärung, zur stringenten Narration oder gar zum Gefallen des potentiellen Konsumenten, entzieht sich auch „Gestern noch“ den Anmutungen des potentiellen Lesers.

Die winzigen Strips erklären wenig bis nichts, jedenfalls nicht dem zufälligen Leser. Was man als Leser versteht, ergibt sich nicht aus dem Strip, sondern daraus, dass man diese Dinge kennt. Da ist Asjas Freund, ihr Studium, die Wohnung, die Eltern – Momentaufnahmen aus dem Leben, dem Muster nach vertraut, dem Inhalt nach dennoch fremd.

Ein roter Faden ergibt sich erst aus dem emotionalen Verständnis dieser Dinge. Zumal die Präsentation des Alltags, da auf vier Bilder täglich, wenn überhaupt, konzentriert, lückenhaft bleiben muss. Der Leser wird gezwungen, diese Lücken aufzufüllen, um die gelegentlich verwirrenden, unerklärlichen Sprünge in dem nachzuvollziehen, was in einem Werk der Fiktion „Handlung“ genannt werden müsste, dies aber genau hier nicht ist.

Um den Leser zusätzlich zu verwirren, streut Asja Wiegand immer wieder bizarre Einzelseiten ein, die seltsam ratlos machen. Grade in diesen Seiten zeigt sich aber auch noch das andere Talent von Asja Wiegand, neben ihrer Fähigkeit, ihren Alltag ehrlich einzufangen. Die Illustrationen sind von tiefer emotionaler Ausdruckskraft. Liest man den Blog chronologisch, lässt sich das Reifen einer Künstlerin beobachten, die von anfänglicher Ungelenkheit zur Fähigkeit gelangt, mit wenigen Strichen Innen- wie Aussendasein gleichzeitig wiederzugeben.

Nicht eingeengt von den Zwängen konventioneller Narration hat Asja Wiegand mit „Gestern noch“ ein ehrliches, nicht auf Leser oder zwingend auf Pointe getrimmtes Comictagebuch entwickelt, das sich von vielen vergleichbaren Projekten abhebt.Dafür und als Ansporn für andere Künstler, ähnliches zu versuchen, erhält Asja Wiegand den Sonderman-Newcomer-Award 2011.

[Vorgetragen auf der Frankfurter Buchmesse 2011.]

2 Responses to “Der kurze Happen Leben – Laudatio für den Sonderman-Newcomer-Award 2011 für Asja Wiegand”

  1. Einladung zur Signierstunde « Terminal Entertainment T3 says:

    […] http://www.pannor.de/?p=921 […]

  2. Stefan Pannor » Blog Archive » Der Rest vorm Fest (13): Asja Wiegand & Ulf Salzmann says:

    […] inzwischen eine erste Auswahl aus diesen Strips vor, für die sie auf der Frankfurter Buchmesse den Sondermann-Preis als bester Newcomer erhalten hat. Erweitert wurde das schmale, aber faszinierende Bändchen um eine exklusive längere […]