Es ist vollbracht! Nach drei Jahren liegt der vollständige “Buddha” in zehn Bänden auf deutsch vor. Nicht nur eins der zentralen Werke im Schaffen des Manga-Übermeisters Osamu Tezuka, sondern ebenso einer der besten Comics aller Zeiten. Eine ausführliche Analyse in zwei Teilen.

Fortsetzung von TEIL 1. Wie steht es nun mit der historischen bzw. Textgenauigkeit des Manga? Tezukas Zeichnung der Titelfigur orientierte sich an der in Japan populären, vorrangig vom koreanischen Buddhismus geprägten Darstellung des asketischen Buddha mit hochgestecktem Zopf und Bindi (Punkt zwischen den Augen). Damit greift er das populärste, aber nicht ursprüngliche Buddha-Bild auf.

Auch bei der Wiedergabe der Buddha-Legende nimmt Tezuka sich diverse Freiheiten. So erzählt er die Geburt Siddhartas abweichend von den Überlieferungen, in der Siddhartas Mutter bei der Berührung einer Blüte den Sohn gebar, der anschließend sofort sprechen konnte.

Bei Tezuka wird daraus durchaus realistisch – also im Sinne des Gekiga! – eine schmerzhafte Niederkunft. Das in dieser Sequenz auftauchende strahlende Licht vom Himmel ist untypisch für sonstige Darstellungen von Buddhas Geburt und verweist eher auf Darstellungen von der Geburt des Erlösers in christlichen Mythen. Allein diese drei Details belegen, dass es Tezuka vor allem darum ging, durch populäre, leicht verständliche und nachvollziehbare Darstellungen so leicht wie möglich beim Leser anzudocken.

Man sollte sich also hüten, „Buddha“ als Werk der Belehrung zu betrachten oder als Schilderung einer wie auch immer gearteten religiösen Wahrheit. Es ist ein Werk der Unterhaltung, in dem Tezuka sich diverse Freiheiten nimmt, um seine eigenen Vorstellungen und streckenweise auch seine eigenen philosophischen Ideen zu präsentieren, vor allem aber eine spannende Geschichte zu erzählen. Vor allem aber ist es ein großartiger, umfangreicher Erzählteppich. Auf den 3.000 Seiten des Werkes rekonstruiert Tezuka farbenfroh, actionreich, mitunter drastisch und mitunter poetisch sowie mit einer überwältigenden Zahl an Haupt- und Nebenfiguren und deren vielfach komplex verwobenen Handlungssträngen und Schicksalen das präbuddhistische Indien.

Ein Detail der grafischen Darstellung verdient besondere Beachtung. Bei der Versammlung der Tiere um Siddharta zu dessen Geburt, aber genauso bei dem der Chapra-Episode vorangestellten Prolog weist die Darstellung der Tiere verblüffende Ähnlichkeit mit der in den frühen Disney-Zeichentrickfilmen auf. Tatsächlich war Tezuka seit frühester Jugend glühender Disney-Verehrer.

Das Ergebnis dieser Verehrung lässt sich in seinen für Kinder entstandenen Frühwerken noch deutlicher nachverfolgen als in den Comics der mittleren und späten Phase. Bekanntestes Beispiel im westlichen Kulturkreis ist dabei „Kimba, der weisse Löwe“, von Carlsen bereits vor einigen Jahren als Taschenbuchausgabe publiziert und aktuell als zum Glück im Format vergrößerte Hardcover-Edition vorliegend. Hierzulande ist die Erzählung vor allem wegen der darauf beruhenden, allerdings drastische Unterschiede aufweisende Anime-Serie bekannt, die zu den ersten und erfolgreichsten japanischen Trickfilmserien gehört, die in westliche Länder exportiert wurde.

Die Grundidee für seinen Manga hatte Tezuka dabei von der Disney-Version des Kinderbuch-Klassikers „Bambi“ entliehen. In einer verblüffenden Umkehr der Verhältnisse war die Anime-Serie später eine der Inspirationsquellen für Disneys Trickfilm „König der Löwen“, wobei der bekanntgewordene Hit „The Circle of Life“ aus dem Film wiederum auf verblüffende Weise buddhistische Positionen aufgreift, wie sie Tezuka ab „Phoenix“ verarbeitete. Tatsächlich waren diverse Disney-Animatoren Tezuka-Fans und Tezuka besuchte die Disney-Studios mindestens einmal und traf Disney auf der Weltausstellung von 1964.

Inhaltlich steht die 1950 und ’51 entstandene Geschichte an der Schwelle vom naiven zum sich emanzipierenden Tezuka. Der Plot selbst ist simpel: das Löwen-Waisenkind Kimba errichtet eine Tier-Zivilisation im Dschungel, die der reifer gewordene Kimba dann gegen Menschen und andere Tiere verteidigen muss. Deutlich merkt man dem Comic die Fortsetzungsstruktur an: immer wieder zaubert Tezuka neue Handlungswendungen aus dem Hut, um die Erzählung voranzutreiben.

Wie in allen frühen Tezuka-Comics dominiert der Slapstick. Allerdings ist der Plot ernster, und Tezuka scheint ihn auch ernster genommen zu haben: eindeutige Äußerungen gegen Tierhaltung, blindwütige Jagd und Umweltverschmutzung belegen das. Das sollte man freilich nicht überbewerten. „Kimba, der weisse Löwe“ ist eine naive, gelegentlich niedliche, ab und zu auch recht heftige Abenteuererzählung für Kinder, an manchen Stellen – etwa bei der Darstellung der Schwarzafrikaner – offensichtlich veraltet, um es einmal vorsichtig auszudrücken.

Schade ist, dass es sich bei dieser zweiten Ausgabe erneut ausschliesslich um die revidierte Fassung des Comics handelt. Ähnlich wie Hergé nach dem Zweiten Weltkrieg seine „Tim und Struppi“-Geschichten liess Tezuka ab den späten Siebzigerjahren eine Vielzahl früher Werke von seinem Studio bearbeiten.

Allerdings waren die Änderungen drastischer als bei Hergé. Neben einer vollständigen Neuschöpfung vieler Bildhintergründe – auf die der frühe, allein arbeitende Tezuka aus Zeitgründen oft verzichtet hatte – wurde auch das Zusammenspiel von Text und Bild sowie der Erzählrythmus allgemein verändert. Dabei ist die Neufassung frischer, eingängiger und allgemein lesbarer als die mitunter recht krude Urfassung. Einige dem Vergleich dienende Seiten der Urfassung wären freilich interessant gewesen.

Welchen Stellenwert Tezuka auch in der japanischen Comickultur der Gegenwart hat, belegt Naoki Urasawas „Pluto“. Es ist ein Remake von „Der größte Roboter auf Erden“ (1964), einer Episode aus Osamu Tezukas langlaufenden Kindercomic „Astro Boy“ (insgesamt serialisiert von 1952 bis 1968). Im Original hatte die Geschichte 170 Seiten. Auch sie wirkt, wie „Kimba“, aus heutiger Sicht und erwachsener Perspektive, naiv, wenn auch aus anderen Gründen: seitenweise prügelten Roboter aufeinander ein, um herauszufinden, wer der Stärkste sei. Aber die Kids liebten das, die Geschichte wird heute noch nachgedruckt. (Auf Deutsch erschien sie im vierten Band von Carlsens „Astro Boy“-Ausgabe.)

Urasawas Remake ist rund zehn mal so lang wie das Original. Und auch sonst ist alles anders. Keine Prügeleien, überhaupt wenig Action. Die Zeichnungen bestechend naturalistisch und ruhig. Grade mal ein wenig vom Plot und ein paar Figuren übernimmt Urasawa, und verschiebt den Fokus weg von Astro Boy, dem Robotjungen, hin zum Polizeikommissar Gesicht (der auch im japanischen Original so heißt) – ein Roboter, der den Mord, wenn man es denn so nennen kann, an diversen anderen Robotern aufklären soll.

Nicht nur der Name des Polizisten deutet an, dass Urasawa hier weniger von Blechkumpels erzählt. Sondern von Identität und davon, welchen Stellenwert sie in einer komplexen Gesellschaft hat. Einer der ermordeten Roboter, Herakles, bestreitet seinen Lebensunterhalt durch Schaukämpfe.

Er schlüpft dazu in den Kokon eines noch viel größeren Roboters. Seine Frau sieht aus wie ein Mensch, die Kinder sind adoptiert. Masken hinter Masken, verstellte und nicht wahrgenommene Identitäten sind durchgehendes Motiv der Erzählung. „Für Menschen“ steht links über dem Eingang zum Polizeipräsidium, „Für Nicht-Menschen“ rechts. Links will der Wachmann davor die beiden Kids, Junge und Mädchen, zwei Zeugen, durchwinken. Aber nein, sagt der Knabe, rechts ist schon richtig. Sie seien immerhin Roboter.

Das erinnert sicher nicht zufällig an „Blade Runner“, Ridley Scotts großartigen filmischen Beitrag zur Diskussion, wann der Mensch ein Mensch ist. Beide Thriller in futuristischer Umgebung, geht der Comic allerdings deutlich weiter in seinem soziopolitischen Großentwurf des erzählerischen Hintergrunds. Robotveteranen aus dem letzten großen Krieg und Ku-Klux-Klan-ähnliche Organsisationen, die Roboter als minderwertig bekämpfen und sich ausgerechnet in Deutschland breitmachen, bestimmen in „Pluto“ die Szenerie einer hochgradig zerrissenen Gesellschaft, die nicht weiß, wohin mit ihren eigenen Geschöpfen – die oft selbst nicht wissen, wohin mit sich.

Nicht umsonst gilt Urasawa in der japanischen Comicszene als enfant terrible. Der Zeichner, der nebenher noch Rockalben aufnimmt, zertrümmerte bereits in seiner Vorgänger-Serie „20th Century Boys“ die eskapistischen Kinderträume des Manga, indem er der Frage nachging, wie eine Welt aussähe, in der diese wahr wären. Das Ergebnis war bitter, düster – und die Verfilmung dieser Geschichte in Japan erfolgreicher als der „Herr der Ringe“.

Mit „Pluto“ geht Urasawa einmal mehr bis an die Wurzeln seines eigenen Berufsstandes. Immerhin hat Tezuka, von dem die Vorlage stammt, den modernen japanischen Comic überhaupt erst erfunden und bis zu seinem Tod 1989 geprägt. „Astro Boy“ ist einer der prägenden frühen Comics der japanischen Comicgeschichte. Die Dinge verschlingen sich: Urasawa zeigt, wie erwachsen das Medium in Japan seitdem geworden ist, indem er in seinem Remake von all den Dingen erzählt, von denen Tezuka 1964 in einem Kindercomic noch nicht reden konnte. Während gleichzeitig Tezuka in Comics wie „Buddha“ den Grundstein für komplexe Erzählungen wie die von Urasawa legte.

Osamu Tezuka: „Buddha“, Carlsen Comics, zehn Bände, jeweils 22,90 Euro

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  • One Response to “Der Manga-Meister und der Heilige (Teil 2)”

    1. Stefan Pannor » Blog Archive » Der Manga-Meister und der Heilige (Teil 1) says:

      […] Sicher auch deshalb ist „Buddha“ heute noch so mühelos zu lesen. Der Prolog um Chapra ist ein schnörkelloses Drama, in all seinen exploitativen Wendungen sicher auch ein ziemlicher Reißer. Seine dramaturgische Notwendigkeit offenbart sich im Verlauf der Handlung mit Buddha und seinen Versuchen, sich ideell wie praktisch vom Kastensystem zu lösen und der bis dato herrschenden Vorstellungen von Leben und Tod als Strafe eine Erlösungs- und Befreiungsidee entgegenzusetzen. Weiter zu TEIL 2. […]