Wie wehrt man sich gegen offene Arme? Der japanische Manga-Markt ist so groß und umfassend, dass jede Geschichte eine Chance hat, Hauptsache man kann einen Film aus ihr machen. Seit den sechziger Jahren laborieren verschiedene Künstler und Herausgeber mit Konzepten für alternative Manga, die sich demnach nicht auf die Inhalte, sondern auf die Form konzentrieren. Das Ergebnis ist eine wilde Gegenkultur der Bilder, immer auf der Flucht vor dem Mainstream, sein jüngstes Produkt das Counter-Manga-Magazin „AX“.

Im November 1989 klinkt sich Hideo Azuma einfach aus. Nach einer tagelangen Sauforgie in seinem Atelier schmeisst er hin und haut ab in die Wälder. Da ist eh schon alles zu spät. Eine ganze Handvoll Deadlines hat der Manga-Zeichner sausen lassen, ein halbes Dutzend Redakteure ist sauer auf ihn. Eigentlich ist Azuma zu dem Zeitpunkt leidlich erfolgreich. Mit Geschichten über kurzberockte Kulleraugenmädchen, semi-pornografischer History- und Science-Fiction, hat er sich eine Fanbase geschaffen, vor allem mittelalte Männer. Es ist nicht das, was er wirklich will, aber es ist ein Einkommen, right?

Den Winter ’89 verbringt Azuma als Penner am Stadtrand. Er lebt aus der Mülltone und Restaurantresten. Eine Art zu verschwinden: obwohl seine Frau, sein Verlag und seine Leser ihn suchen, findet ihn, der den Winter größtenteils im Billigsakerausch am urbanen Rand verbringt und sich von Wildrettich ernährt, den er nachts im Schlafsack unter seinem Arsch weichgart, monatelang niemand. Zweimal spielt sich das Spiel ab, einmal baut Azumi sich sogar eine vollständige neue Identität auf – als Hilfsklempner und Bauarbeiter. Die Polizei muss ihn heimschleifen. Er landet in der Klinik. Er zeichnet weiter Manga.

Wie sehr Manga in Japan alle Bereiche des Lebens durchdringt, ist aus deutscher Sicht mit dem traditionell gespaltenen Verhältnis zum Comic schwer nachzuvollziehen. Vier Milliarden Euro setzt die japanische Manga-Industrie derzeit jährlich um, in unzähligen Magazinen, in Taschenbüchern, seit geraumer Zeit als Handy-Manga. Der japanische Comic besitzt die engste Verwertungskette der Welt. Der Trickfilm zum Comic oder der Comic zum Trickfilm, der Realfilm zu beiden, dazu unvermeidlich Merchandising und Games, folgen in Japan unwahrscheinlich eng aufeinander, häufig mehrmals in Folge und sich so gegenseitig am Laufen haltend. Comiket, die größte Comicmesse der Welt alljährlich in Tokyo, hat in drei Tagen eine halbe Million Besucher – auf 35.000 Aussteller.

Der Zeichner soll in einem dergestalt auf das Endprodukt und seine Wiederverwertbarkeit getrimmten Markt nur der Lieferant sein. Vom Redakteur auf Linie getrimmt, hat er zwanzig Seiten pro Woche abzuliefern, am Schluss ein Cliffhanger, nächste Woche Spiel von vorn. Wer den Hamsterradrythmus durchhält und sein Publikum ideal bedient, dessen Erfolg kann Rockstar-Dimensionen erreichen. Wie Akira Toriyama, der Zeichner von „Dragon Ball“, dem bis heute kommerziell erfolgreichsten Manga der Welt.

Als Toriyama 2004 Gast auf der Leipziger Buchmesse war, wurde er mit seiner gesamten Familie und Bodyguards eingeflogen: dreizehn Mann, erster Klasse, eine Woche im Fünf-Sterne-Hotel. Das alles für ein einstündiges Meet & Greet, 100 exakt abgezählte Autogramme und eine Pressekonferenz vor zwölf handverlesenen Journalisten. Zu dem Zeitpunkt war „Dragon Ball“ in Japan schon seit zehn Jahren durch, in Deutschland aber auf dem Höhepunkt des Ruhms.

519 wöchentliche Kapitel hatte der japanische Verlag aus Toriyama gepresst, sie als 42 Bücher nochmal verkauft. Über 200 Trickfilmepisoden waren aus dem Stoff gemacht worden (Screenshotcompilations davon wurden mit Sprechblasen versehen ebenfalls als Comic verkauft) sowie 17 Realfilme. Für Toriyama bedeutete „Dragon Ball“ Höhepunkt und Ende seiner Karriere. Künstlerisch ist er seither nahezu völlig verstummt.

Manga ist ein Moloch, der immer neu gefüttert werden muss. Wie wehrt man sich gegen einen Markt, der im Grunde alles schluckt, mit einem Bedarf an tausenden neuen Comicseiten pro Woche, der nahezu jeden Stoff akzeptiert, solange er nur umfangreich genug ist und die Chance auf mediale Weiterverwertung bietet? In den Sechzigerjahren prägt Yoshihiro Tatsumi den Begriff des „Gekiga“. Ein Wortspiel: Manga heisst das „komische Bild“, Gekiga war das „dramatische Bild“.

Eine neue Form von Manga soll das sein, beeinflusst von der Nouvelle Vague und den Krimis von Mickey Spillane. Manga gilt bis dahin als Medium für Kinder, die Geschichten sind simpel, naiv, unrealistisch. Es gibt sie für wenige Yen an jeder Straßenecke in Leihbüchereien, sie erreichen Millionenauflagen. Eskapismuslektüre. Tatsumi setzt dem bodenständige Geschichten aus dem zunehmend komplexer werdenden japanischen Alltag entgegen, expressionistisch, rau, provokant gewalttätig und sexuell.

Tatsächlich baut sich Tatsumi einen neuen Käfig statt des alten. Gekiga wird zur Modebewegung unter den japanischen Mangaka und zum Trend bei den Lesern (was die Verleger dem jungen Künstler zuerst verschweigen, um die Honorare zu drücken). Tatsumi wird von seinen Verlegern genötigt, eine Episode nach der anderen rauszuhauen, rund 100 Seiten pro Monat muss er liefern, zu Honoraren, die niedriger sind als die Gehälter von Angestellten der niedrigsten Gehaltsklasse im damaligen Japan. Die Ideen für seine Erzählungen holt sich Tatsumi im Kino, immer darauf bedacht, die Filme vor seinen Kollegen gesehen zu haben, die natürlich ebenso auf der Jagd nach Stoffen sind wie er.

Von der Unmöglichkeit, Nein zu sagen: basierend auf Tatsumis Idee vom Gekiga gründen Sanpei Shirato und einige andere das Magazin „Garo“, das erste Alternative-Manga-Magazin Japans. Alternative, my ass: auf traumhafte 80.000 Exemplare steigt die verkaufte Auflage, für japanische Verhältnisse nicht gigantisch, aber auch nicht grade Gegenkultur.

Mitverantwortlich dafür ist Shirato selbst. Dessen Serie „Kamui“ ist ein Meisterwerk des Historiencomics (und weil Shirato Marxist ist, ist die Serie in ihrer Geschichtswahrnehmung entsprechend geprägt). Vor allem aber wird „Kamui“ als Ninja-Comic wahrgenommen, eines der beliebtesten japanischen Genres. Als die Geschichte nach gut zehntausend Seiten endet, gehen die Verkaufszahlen von „Garo“ schlagartig in den Keller. Zwei Jahrzehnte lang wird das Magazin danach einen langsamen Tod sterben, ehe es Mitte der Neunzigerjahre verkauft und schließlich eingestellt wird.

Shiratos Flaggschiff „Kamui“ ist das Material, mit dem die Blattmacher ihren Lesern auch obskure Sachen reindrücken können. Wie Maki Sasakis Experimental-Strip „…………… (……………)“, eine willkürliche Aneinanderreihung von Bildern mit Sprechblasen, die alle so leer sind wie der Titel. Als die Leser sich beschweren, dass die Geschichte wegen der „vergessenen“ Sprechblaseninhalte unverständlich sei, liefert Sasaki nach. Wieder willkürliche Bilder, aber diesmal mit Text – kopiert aus einer chinesischen Zeitschrift.

Eine Eulenspiegelei – und das Bewusstsein, dass ein alternativer Manga nicht über die Inhalte funktionieren kann, weil der Mangamarkt jeden Inhalt schluckt. Obwohl „Garo“ also für Japan auch ungewöhnliche Inhalte liefert (wie etwa autobiographische Comics, ein in westlichen Ländern stark verbreitetes, in Japan eher nebensächliches Genre), sind es vor allem die Formen – bzw. wie im Fall Sasaki deren Auflösung – mit denen das Blatt am traditionellen Manga rüttelt.

Die Kurzgeschichten wagen sich in graphisch immer abseitigere Gefilde, loten die Untiefen von Horror und Karikatur aus – oft beides gleichzeitig – und zelebrieren ein absurdes Narrationsverständnis, das eher Gefühl als Gehalt vermittelt. Völlig abgekapselt vom Rest der Welt (in Japan gibt es praktisch keine Comicimporte, so dominant ist die eigene Industrie) entwickelt sich so ein Independent-Manga, der in vielerlei Hinsicht der westlichen Avantgarde-Comics verblüffend ähnelt. Es ist kein Zufall, dass die ersten französischen Comiczeichner, mit denen schließlich der Schulterschluß in den Neunzigerjahren gesucht wird, jene rund um L’Associacion sind: Lewis Trondheim, Joan Sfar und die anderen, die den französischen Comic mit ähnlichen Mitteln radikal erneuert haben.

Ohne Tatsumi und Gekiga, Shirato und „Garo“ gäbe es vermutlich keinen modernen Manga in Japan. Ihre Auslotung und Umdrehung der Verhältnisse haben erst so wunderbare wilde Popmärchen wie das zweitausend Seiten lange „20th Century Boys“ erst möglich gemacht, Naoki Urasawas hirnzermatschende Popkulturcollage aus Philip K. Dick, William Gibson, Stephen King und Godzilla, dessen atemberaubend hochgestapelter Plot über virtuellen Welten, Kindheitsträume, Serienmörder, Glamrock und Betonguerilleros mitten in Tokio am Ende so grandios in sich zusammen kracht, dass sogar sein Scheitern Schönheit besitzt.

Dass Hideo Azuma seine Erfahrungen als Penner in einem radikalen Manga verarbeiten konnte („Der Ausreisser“), wäre ohne die Goldgräberarbeit der Gekiga- und Garo-Vorreiter nicht denkbar gewesen, ebenso wenig wie die melancholischen Elegien eines Jiro Taniguchi („Vertraute Fremde“), oder die nervenzerfetzenden Ekelorgien von Hideshi Hino („Hino Collection“).

Nachfolger von „Garo“ im Geiste ist „AX“. Von Auflagenzahlen wie zu „Kamui“-Zeiten kann dieses Magazin nur träumen. Hintergrund ist der Wandel, der in den letzten Jahren sogar die scheinbar steinfest stehende Manga-Industrie erfasst hat. Zuwächse gibt es nur noch im elektronischen Bereich, eben dem der Handy-Mangas. Der Print-Bereich schrumpft kontinuierlich. Rezession als Chance: „AX“ bäckt so kleine Brötchen, dass sie vollkommene Narrenfreiheit haben.

Sechs- bis siebentausend Exemplare verkauft das Magazin, alle Zwei Monate, auf einem Markt, in dem wöchentliche Erscheinungsweise Usus ist. Honorare können bei solchen Auflagen längst nicht mehr gezahlt werden. Wie bei „Garo“ steht die Form vor dem Inhalt. Das Ergebnis derart von kommerziellen Zwängen befreiter Comics grade im strikt kommerziell orientierten japanischen Unterhaltungsmarkt ist eine krude, mitunter natürlich auch unlesbare, im Zusammenspiel wilde und im Ergebnis verblüffend europäische Mischung des Avantgarde-Comic, die dem westlichen Leser grade deshalb so vertraut wirkt, weil der Platzmangel (und die Tatsache, dass die Zeichner es sich nicht leisten können, wochenlang an endlosen Erzählungen zu arbeiten) für eine Konzentration der Inhalte auf wenige Seiten sorgt.

Grade mal eine Handvoll Seiten sind die meisten Erzählungen lang, die bevorzugt ins Absurde kippen, aber genau so extreme Gefühlszustände und banalen Alltag erforschen. Yoshihiro Tatsumi, inzwischen über 70 Jahre alt, ist auch dabei. Der letzte Satz in seiner Autobiographie „A Drifting Life“ (selbstverständlich ein Manga) lautet „I’ll never be done with Gekiga“.

Literatur:

Hideo Azuma: Der Ausreißer, Schreiber & Leser, 192 S.; €14,95
Hideshi Hino: Hino Horror 1 – 4, je 200 S.; € 10,00
Naoki Urasawa: 20Th Century Boys, Panini, 21 Bde., je 200 S.; je 12,95 €
Sanpei Shirato: Kamui, 2 Bde. á 220 S.; Carlsen, nur noch antiquarisch
Yoshirio Tatsumi: A Drifting Life, Drawn & Quarterly, 860 S.; $29,95
Diverse: AX, Drawn & Quarterly, 400 S.; $29,95

Veröffentlicht (in anderer Form) in SPEX #329.

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