Loisel der Zeichner wurde in den letzten Jahren mehr und mehr zu Loisel dem Autor. Die Möglichkeit, Geschichten erzählen zu können, aber nicht mehr zeichnen zu müssen, hat zu einem der erstaunlichsten Comic der letzten zehn Jahre geführt: der postkapitalistischen Großutopie „Das Nest“.

Auch in „Der große Tote“ entwickelt er als Autor verblüffend optimistische Utopien.

Seit Loisel sich weitgehend von der (zumindest von ihm wohl so empfundenen) Last befreit hat, Zeichner seiner eigenen Skripte zu sein, ist etwas ganz erstaunliches geschehen. Zum einen hat die Zahl seiner Titel schlagartig zugenommen. Zum anderen sind sie von ungeahnter Leichtigkeit, in starkem Kontrast zum oft bitteren Nihilismus vor allem seines „Peter Pan“-Mehrteilers (auf dessen einzelne Folgen man manchmal Jahre warten musste).

Dass ihm (und seinen Mitautoren und -zeichnern) die Sache Spaß macht, zeigt sich schon am Ausufern der Serie „Das Nest“. Das Epos aus den 1920er Jahren in Kanadas hintersten Wäldern, ursprünglich als Trilogie geplant, wucherte auf fünf, sieben und letztlich neun Bände an, der letzte sogar mit dem extremen Mehrumfang von über hundert Seiten.

Und man will keine davon missen! Von Beginn an war „Das Nest“ weniger auf die klassische Vorstellung von Handlung angelegt, also eine mehr oder wneiger kausale Folge von Ereignissen hin zu einem Handlungshöhepunkt.

Vielmehr war sie ein Soziogramm im Kleinen, bei dem mit dem Tod des Erzählers (ein Ereignis, das hier durchaus mehrdeutig zu sehen ist) einer der Handlungshöhepunkte gleich zu Beginn geschieht.

Was ist eine Handlung ohne Erzähler? Komplex. Nicht die Figuren und ihr Handeln stehen im „Nest“ im Vordergrund, sondern ihre Beziehungen zueinander. Weil dem so ist, laufen hier manchmal eine handvoll und mehr Handlungsstränge gleichzeitig ab, oft im selben Panel, sodass die mehrfache Lektüre lohnt, um wirklich allen Ereignisfäden folgen zu können.

Nicht alles läuft auf irgendwas hinaus. Dinge geschehen, und sie geschehen ungeordnet, jenseits einer Dramaturgie. Wie gesagt: der Erzähler ist tot.

Dabei ist das, mit seiner skuril-liebenswerten Figurenzeichnung in seinen besten Momenten an den Fernsehklassiker „Ausgerechnet Alaska“ erinnernd, ist nicht einmal Hauptgrund für die Meisterhaftigkeit dieses Comics, der ohne Frage zu den besten der an Meistertsücken wahrlich nicht armen vergangenen Dekade gehört.

„Das Nest“ ist eine Utopie. Und wie alle guten Utopien reicht sie über den Gegenstand der Utopie, den sie abhandelt, hinaus.

Natürlich ist es möglich, diese Geschichte (in deren Verlauf sich ein Pfarrer von den Beschränkungen seines Glaubens lossagt, ein Homosexueller offen seine Sexualität leben darf, eine Frau ein uneheliches Kind bekommt, ohne dass dessen Vaterschaft geklärt wird) als Übergang vom katholischen zum protestantischen Wertesystem zu lesen, als Übergang vom festgefügten Sozialsystem zum durch das Handeln der Akteure geschaffenen Sozialsystem, damit letztlich als Übergang vom Mittelalter in die kapitalistische Moderne.

Dann wäre er ein reiner Historiencomic, der – wie die Figuren selbst es mehrfach reflektieren – vom Fortschritt handelt. Immerhin ist dieser Fortschritt hier überall. Es wird fleissig geschaffen, Restaurants und Läden eröffnet, ein Schiff gebaut, am Schluss kommt sogar der elektrische Strom ins Nest. Es ist, vordergründig, die Utopie des Robinson, der aus dem Nichts ein Paradies schafft, weil er ein tätiger Mensch ist.

Doch Loisels Utopie reicht weit darüber hinaus. Sie ist weniger, wie alle Geschichten vom Paradies des schaffenden Menschen, eine kapitalistische Utopie. Sondern eine hedonistische, eine post-kapitalistische.

„Es musste nur mal ordentlich der Geist der Freiheit wehen“, sinniert eine der Figuren kurz vor dem Ende der Handlung, für ein Leben „mit allem, wozu ihr noch Lust haben werdet“.

Hier fällt das entscheidende Wort. Lust heisst nicht Nichtstun. Arbeit spielt im „Nest“ immer eine Rolle, sei es bei den Holzfällern oder bei den Näherinnen im Dorf. Doch es kommt kaum Geld vor. Und mit fortschreitendem Geschehen nimmt der äußere Zwang zum Tun, Arbeit als Überlebenskampf, ab. Ebenso verschwindet das Geld aus dem Fokus des Geschehens. Wenn der zivilisationsflüchtige Serge vor Ort ein Restaurant eröffnet, dann muss keiner der Besucher dort das Essen bezahlen. Die außergewöhnliche französische Küche im Hinterland wird, als Bereicherung empfunden, von der gesamten Gemeinde getragen, und jeder darf mal rein.

So geht das auf allen Ebenen. Die Verbesserung der Welt, vom rückständigen, auch freudlosen Dorf zu einem Utopia en miniature wird nicht durch finanzielle Anreize angestoßen, sondern durch den Antrieb der Figuren aus sich heraus, etwas zu schaffen, und durch die Menschen, die sukzessive diese Ideen annehmen.

Man mag das naiv finden. Sicher nimmt „Das Nest“ nicht für sich in Anspruch, ein Empfehlungsschreiben für die Welt und wie man sie macht zu sein. Aber für den Moment der Lektüre gibt diese fröhliche, manchmal burleske, oft poetische und komplexe Geschichte dem Leser ein Vertrauen in den Wert des eigenen Handelns zurück, das im Alltag oft verloren geht.

Ganz ähnlich „Der große Tote“. Nach anfänglichen Startschwierigkeiten hat die Serie sich in einem ungewöhnlichen genre eingerichtet, dem der Endzeit-Fantasy. Moment, möge man nun sagen, „Endzeit“ klingt aber nicht utopisch.

Loisel, hier mit Ko-Plotter Djian, entwirft eine Geschichte voller Rätsel, in der der Übergang einer oder mehrerer Figuren zwischen unserer und einer Fantasywelt (der Welt des titelgebenden großen Toten) planetenweite Katastrophen hervorzurufen scheint.

Tatsächlich ist ein Titel voller Unglück, auch voller bestechender realistischer Details, wie etwa die Angst des von seiner Herde getrennten Bauern, dass die Kühe sterben, wenn er sie nicht rechtzeitig findet und melkt.

Doch auch hier steht im Mittelpunkt das Vertrauen zueinander. Man hilft einander. Man redet miteinander. Man sucht Verständnis füreinander, auch über seltsame Dmensionsgrenzen hinweg. Keine der Figuren handelt aus eigennützigen Motiven.

Der Kontrast des Geschehens ist schärfer angesichts der ablaufenden (und sich von Band zu Band beschleunigenden) Katastrophe, der Ton sicher negativer. Trotzdem sind wir weit entfernt von der man-eat-man-Welt vergleichbarer Endzeittitel.

Anders als beim „Nest“ ist „Der große Tote“ noch nicht abgeschlossen. Es gibt also keine Gaantie, dass der vertrauensvolle Ton der Erzählung nicht kippt, zumal nicht absehbar ist, wann die Serie ihr Ende finden soll (hier hat Loisel vermutlich aus der optimistischen Ankündigung beim „Nest“ gelernt).

Für den Moment jedoch haben wir eine Serie, die sich selbst in der Schilderung der Katastrophe den Optimismus bewahrt.

Das Nest Bd. 9, Carslen Comics, 128 S., €26,99
Der große Tote Bd. 5, Egmont, 64 S., 16,00 €

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