Francois Schuiten/ Benoit Peeters
Die Sandkorntheorie
Die Comics aus dem Zyklus der „Geheimnisvollen Städte“ zählten schon immer zu den rätselhaftesten Erzählungen überhaupt. Nahezu jeder Band handelt von irrationalen, selten auch nur versuchsweise erklärten Ereignissen in einer meist vollkommen rationalen Welt. Das und der extrem kalkulierte, unterkühlte Strich der Geschichten (neben dem sich Hergé mit seiner „ligne claire“ wie ein wilder Revoluzzer ausnimmt), der in vollkommenem Kontrast zur Irrationalität der Ereignisse steht, machen die Geschichten um obskure Städte, fantastische Stadtplaner und durchgeknallte Städtebauer zu einem schwer kategorisierbaren (und damit auch schwer verkäuflichen) Titel. Oder kurz: diese Comics sind so originell und originär, dass es schlicht keine Schublade für sie gibt. Der Kunde aber braucht seine Schubladen.

Darum wohl erscheint der neueste Band des Zyklus in Deutschland sechs Jahre nach dem letzten, eine atemberaubend lange Zeitspanne, und immerhin drei Jahre nach der französischen Erstveröffentlichung. „Die Sandkorntheorie“ unterscheidet sich in von den vorherigen Bänden, indem der Band Schauplätze, Figuren und Ereignisse aus vorherigen Erzählungen aufgreift. Stand bisher fast jeder Band für sich, verknüpft „Die Sandkorntheorie“ einzelne Ereignisse, deutet Verbindungen über die bestehende Chronologie hinaus an, greift Figurenschicksale auf (und schafft Verbindungen zu unserer, der „realen“ Welt).

Das heißt nicht, dass der Band leichter zu begreifen ist, sofern man die übrigen Reihe kennt. Wie jede Erzählung der „Geheimnisvollen Städte“ bleibt auch diese letztlich rätselhaft. Wieder spielt sie in Brüsel, der hassgeliebten Metropole der Künstler, die damit ein surreal-futuristisches Ebenbild ihrer eigenen Heimatstadt Brüssel geschaffen haben, mit aberwitzigen Hochbahnen, Hochhäusern und charmanten Altstadthäusern, deren Formen und Fassaden sich miteinander verknoten und ineinander über gehen. Im Kern wie immer ein mysteriöses Ereignis. Bzw. sogar mehrere: Sand, der in einer Wohnung auftaucht, Steine, die in einer anderen auftauchen, ein Koch, der so lange an Gewicht verliert, bis der Wind ihn davon zu treiben droht. Ein bizarres Schmuckstück, das nicht loszuwerden ist.

Die Stadtoberen lassen Ermittlungen dazu aufnehmen, während die Stadt im Chaos des zunehmend ganz Brüsel überflutenden Sandes versinkt. Von einer Sandkorntheorie ist die Rede, sie soll die Ereignisse erklären. Der Leser kann nur mutmaßen, was hier gemeint ist. Möglicherweise jene Theorie, dass es mehr Sandkörner auf der Erde gibt als Sterne im Universum? Denn die Geschichte handelt in erster Linie vom Gleichgewicht. So wie Brüsel im Sandchaos versinkt, zerfallen anderswo die Gebäude der Bugtis, eines weit entfernt lebenden Wüstenstammes. Was hier zu viel ist, ist dort zu wenig. Ausgleich muss geschaffen werden.

„Die Sandkorntheorie“ ist mit diesem Ansatz ein verblüffend aktueller Comic, der unterschwellig die aktuelle Nord-Süd-Debatte, den Clash von westlicher und orientalischer Kultur aufgreift. Aber Schuiten und Peeters sind selbst viel zu sehr Architekten, als das ihre Geschichte nicht noch eine weitere Lesart gestatten würde. Nämlich die vom unvermeidlichen Zerfall. Hierfür steht der Sand, der nach und nach Brüsel vollständig zu bedecken droht, der Häuser zum Einstürzen bringt. Der Zerfall sorgt dafür, dass die Einwohner die Stadt nach und nach verlassen. Letztlich, sagen Schuiten und Peeters, zerfällt jedes gebaute Haus, und alle Mühe, das zu vermeiden, ist nur kurzzeitiger Widerstand gegen das Unvermeidliche. (Das ist nicht fatalistisch. In Brüssel, der realen Stadt, mühen sich Schuiten und Peeters um Erhalt und Rekonstruktion eines Hauses des klassischen belgischen Jugendstil-Architekten Victor Horta.)

Der Sand und die Steine sind aber zugleich die Materialien für neue Häuser. „Die Sandkorntheorie“ muss derart metaphorisch gelesen werden, denn eine rational begreifliche Lösung für alle Geschehnisse gibt es nicht. „Die Sandkorntheorie“ ist trotz seiner nüchternen, mit Zirkel und Lineal gestalteten klaren Oberfläche ein zutiefst lyrischer Comic über die Vergänglichkeit und die Dinge des Lebens, dessen Handlung sich nur emotional erschliesst. (Stefan Pannor)

Schreiber & Leser, 112 S.; €24,95

Verfasst für die Leipziger Comic Combo.

3 Responses to “Aktuelle Comicrezension (158): ‚Die Sandkorntheore‘”

  1. molosovsky says:

    Du schriebest:
    ZITAT „Die Sandkorntheorie“ unterscheidet sich in von den vorherigen Bänden, indem der Band Schauplätze, Figuren und Ereignisse aus vorherigen Erzählungen aufgreift. ZITAT-ENDE

    Dem kann ich nicht ganz zustimmen. Querverbindungen, *Cameo-Auftritte* von Figuren gibt es alle Naselang auch in den Vorgägerbänden. Ich finde nicht, dass sich diesbezüglich „Die Sandkorntheorie“ von den Vorgänger-Alben unterscheidet. Neu ist höchstens, dass mit Mary van Rathen eine Hauptfigur eines Vorgängerbandes (»Mary«, taucht aber auch in »Das Stadtecho« und »Der Archivar« auf) hier nochmals eine wichtigere Rolle spielt.

  2. Susumu says:

    Stimmt, den Einwand wollte ich auch bringen. Wobei: Auch „die Verbindung zu unser, der „realen“ Welt“ ist nicht neu in der „Sandkorntheorie“ – Falls das in der Rezension ausgedrückt werden sollte. Gab es in jedem Fall schon in „Mary“ und „Stadtecho“, die ja beide besonders stark miteinander verknüpft sind. Rossi Schreiber verwies da auch mal auf eine von Schuiten entworfene Pariser Metro-Stadtion, die als „Verknüpfungspunkt in die anderere Richtung“ konzipiert sei.

    Dass der Band erst 3 Jahre nach der französischen Ausgabe erscheint stimmt auch nicht so ganz. Im August 2007 erschien nur die erste Hälfte, etwas mehr als ein Jahr später dann die zweite, beides im Halbseitenformat „A l’italienne“ und in s/w. Die auf Deutsch vorliegende albenformatige Integralform mit „Sandeffekten“ ist im Original erst im Oktober 2009 erschienen. Philipp Schreiber sagte dazu am 13.10.2009 im Comicforum:
    Hallo Robert,

    es wird einen weiteren Schuiten Band geben, und zwar „La theorie du grain de sable“. Wir sind auch schon seit einem Jahr dran, aber die Autoren arbeiten das Ding dauernd um!
    Jetzt soll es endlich so weit sein, aber wann das Buch dann kommt steht noch nicht fest. Ob es noch diese Jahr wird?

    […]

    Grüße,
    Philipp

    Insofern dürfte die Verzögerung nicht primär der „nicht möglichen Schubladisierung“ zulasten zu legen sein, auch wenn S&L freilich wie so oft einen Partner zum Mitdrucken suchte. Irgendwo (find das jetzt leider nicht) schrieb Philipp oder Rossi aber auch, dass der Lizenzgeber für die internationalen Fassungen auf diese Integralfassung bestanden hat.

  3. Stefan Pannor » Blog Archive » Der Mann, der New York erfand says:

    […] mit architektonischen Themen, Prinzipien, Grundmustern gibt es wie Sand im Zement: die Reihe der “Geheimnisvollen Städte” von Schuiten & Peeters, Mazuchellis Adaption von Paul Austers “Stadt aus Glas” und […]