Eine Liebesgeschichte soll es sein: Chester Browns autobiografische Aufzeichnungen über seine Besuche bei Prostituierten. Sein vorgebliches Plädoyer für käuflichen Sex ist aber vor allem ein Dokument emotionaler Verarmung.

Ein wenig verschroben war Chester Brown schon immer. In seiner graphischen Novelle „Playboy-Stories“ schilderte der kanadische Zeichner in epischer Länge die Masturbationstechniken seiner Teenager-Jahre. Im deutlich umfangreicheren „I Never Liked You“ (dt. „Fuck“ bei Reprodukt) geht es um Browns Unfähigkeit, mit Frauen unbefangen umzugehen.

Zusammen mit dem jüngsten Buch „Ich bezahle für Sex“ bilden sie eine traurige Trilogie des Ungeliebtseins.

Vielleicht sind alle kanadischen Comiczeichner etwas seltsam. Browns Landsmann Dave Sim hat nicht nur die sechstausend Seiten lange Lebensgeschichte eines Erdferkels in einer Fantasywelt gezeichnet, sondern über diesem Werk auch einen exzessiven Frauenhass und religiösen Fanatismus entwickelt. Browns Freund und Zeichnerkollege Joe Matt hat seine Pornosucht ausführlich in einem Comic dargelegt.

Weil „Ich bezahle für Sex“ autobiografisch ist, taucht Matt in diesem Comic als Figur auf. Und – das ist das Verstörende – als Stimme der Vernunft. Die Geschichte geht so: Brown trennt sich von seiner Freundin. Weil er weiter Sex will, aber hochgradig verklemmt ist, sieht er als logischen Ausweg den Gang zu Prostituierten.

Chester Brown ist ein sehr ordentlicher Mensch. Der Comic basiert nicht allein auf Erinnerungen. Minutiös hat er Aufzeichnungen geführt, über Name, Datum, Ort und Preis der Prostituiertenbesuche. Zusätzliche Quelle des Buches waren „Rezensionen“, die Brown in einem lokalen Freierforum gepostet hat.

Neben einer Vielzahl extrem unerotischer Sexszenen besteht „Ich bezahle für Sex“ vor allem aus der Schilderung von Browns Umfeld nach seinem „Outing“. Auftritt Joe Matt.

Grade mit ihm redet Brown immer wieder über die ethischen Aspekte der Prostitution. Und über die emotionalen. „Kalt und klinisch“ sei es, für Sex zu bezahlen, sagt der Pornoabhängige Matt. Nein, es sei sehr nett und freundlich gewesen, erwidert Brown.

Verstörend? Ja.

Ebenso wie das schnell aufkommende Muster der Selbstverständlichkeit des Prostituiertenbesuchs. Brown rechnet aus, wie viele Frauen er sich leisten kann, welche wie oft etc. Über dem monetären Kalkül des Freiers verfliegt jede Befangenheit. Anfangs noch schüchtern, werden die Besuche bei Prostituierten zum Ende hin immer häufiger.

In der zweiten Hälfte wird die Lektüre des Buches zu einer Abfolge für den Leser kaum noch unterscheidbarer Frauen, mit denen Brown Sex gegen Geld hatte. Die Prostituierte wird zur Droge, die Prostituierte zum Objekt. Blond oder dunkelhaarig, große oder kleine Brüste, teuer oder billig – Äusserlichkeiten und der Preis der Dienstleistung sind alles, was für Brown zählt.

Der Zeichner selbst versteht das als Plädoyer für Prostitution. Lässt man aber das moralische Minenfeld ausser acht, das er mit seinen Schilderungen betritt („Ist Prostitution okay oder nicht?“), ist „Ich bezahle für Sex“ vor allem das Dokument einer emotionalen Verarmung.

Angeblich um sie zu schützen, zeichnet Brown die Prostituierten gesichtslos, entweder von hinten oder so, dass Sprechblasen ihre Köpfe verdecken. Es sind Frauen, die am Hals aufhören.

Sich selbst dagegen porträtiert Brown knochig, mit ausdruckslosem, todenschädelhaftem Gesicht. Ein Freier von der traurigen Gestalt, dem keine Emotion abzulesen ist.

Wo ist die Liebe in dieser vorgeblichen Liebesgeschichte?

Im ganzen Buch gibt es praktisch keine Emotion, höchstens ein wenig Lust. Oft nicht einmal die. Ist es Absicht, dass Brown in einem Buch, das die Prostitution normalisieren helfen soll, die negativen Folgen des exzessiven Konsums, ja überhaupt der Einstellung zu Sex als Konsumartikel so drastisch sichtbar macht?

Oder ist Browns Seelenstrip ein verstörender Blick in einen Abgrund, der gar nicht weiss, dass er ein Abgrund ist?

Walde + Graf, 336 S.; € 22,95

Unredigiertes Originalmanuskript, in bearbeiteter Fassung auf SPIEGEL-Online erschienen.

4 Responses to “Der Freier von der traurigen Gestalt”

  1. Thomas says:

    Ein sehr sehr seltsamer Text. „Vielleicht sind alle kanadischen Comiczeichner etwas seltsam.“ Natürlich, denn unabhängig von der Nationalität sind Comiczeichner seltsam. Sonst wären sie ja Anstreicher oder Kunstlehrer geworden. Aber warum Du Seth komplett unterschlägst (immerhin kommt er auch im Buch vor, hat aber in seinen Werken andere Themen als seine Sexualität), dafür aber (mal wieder) von Dave Sim anfängst, ist komplett unverständlich. Da könnte man auch sagen, dass vielleicht alle amerikanischen Regisseure pädophil veranlagt sind und drei Beispiele nennen. Oder alle ostdeutschen Journalisten – denk Dir was aus. Mein Respekt für den Spiegel als „Nachrichtenmagazin“ schrumpft immer mehr zusammen.

  2. Stefan says:

    Hey, Thomas – sorry, dein Kommentar hing im Spamfilter fest.

    Zwischen „Seltsamkeit“ und „Pädophilie“ sehe ich allerdings noch deutliche Unterschiede. Da denke ich mir lieber nichts aus.

  3. Tom says:

    Das klingt ja grässlich, was du über den Band schreibst.
    Dabei hatte ich eine ganz gute Meinung von Chester Brown, da mir „FUCK“ gefällt.
    Von diesem Band werde ich aber wohl besser die Finger lassen.
    Danke für die indirekte Warnung.
    Ginji

  4. Stefan Pannor » Blog Archive » Aktuelle Comicrezension (183): ‘Invincible’ says:

    […] Nichtsdestotrotz erinnert die Erzählung in ihren besten Momenten an Mittel und Methoden des amerikanischen Independent-Comic, der immer schon dort am besten war, wo er vom amerikanischsten aller Millieus, der Vorstadt, erzählen konnte. Egal ob bei Peter Bagge, Craig Thompson oder Chester Brown. […]