Wieso gibt es so viele gute Comics, aber so wenig gute Science-Fiction-Comics? So das Thema eines Aufsatzes für das Conbuch des Elstercon 2012. Da das Buch inzwischen vergriffen ist, sehe ich kein Hindernis, den Artikel hier zu veröffentlichen. Aufgrund seines Umfangs in zwei Teilen. Teil 1 mit Philip K. Dick, Stalin, Little Nemo und Herge.
„Das Hauptwerkzeug zur Manipulation der Wirklichkeit ist die Sprache“, konstatiert Philip K. Dick in seinem Aufsatz „Wie man eine Welt erfindet, die nicht nach zwei Tagen wieder auseinanderfällt“.
Thema des Aufsatzes ist die merkwürdige Ambivalenz der Science Fiction, einerseits – wie jede Fiktion – eine offensichtlich konstruierte Welt zu erschaffen, andererseits diese weitab von der Realität des Konsumenten anzusiedeln und gleichzeitig einen Glaubwürdigkeitsanspruch auf das Erzählte zu erheben.
Vielleicht muss man Schriftsteller sein, um die Sprache als Mittel der Wirklichkeitsmanipulation – kurz: der Täuschung – so hoch zu erheben.
Natürlich erleben wir tagtäglich, wie Sprache unsere Wahrnehmung der Realität formt: bei der Lektüre von Nachrichten und Zeitungsartikeln, genauso aber bei Wikipedia-Einträgen und Tweets.
Sprache kann selbst in winzigen Portionen das formen, was wir als real annehmen. Man erinnere sich an die bedeutende Rolle von Facebook und Twitter während des Arabischen Frühlings, als über Handys und Rechner versandte Beobachtungen zu einer der wichtigsten Faktenquellen für die Aussenwelt wurden.
Genau so macht Sprache allerdings auch anfällig für Manipulation. Als im Februar 2009 ein Wikipedia-User dem damaligen Verteidigungsminister Guttenberg einen zusätzlichen Vornamen („Wilhelm“) in den Namen schmuggelte, fand diese Fälschung als wahrgenommene Realität innerhalb von 24 Stunden Eingang in fast alle deutschsprachigen Medien. (Dass sich zwei Jahre später Guttenberg selbst als akribischer Textfälscher herausstellte, ist eine faszinierende Pointe dieses Vorfalls.)
Was aber ist mit dem Bild?
Sprache ist anfällig für Manipulationen, weil sie einen Umweg darstellt: sie abstrahiert – transkribiert – Realität. Diese verschlüsselte Realität zu dekodieren, verlangt Kenntnisse, mindestens Sprachkenntnisse, meist auch noch Schriftkenntnisse. Sprache ist indirekte Realitätswahrnehmung. Bilder sind direkte Realitätswahrnehmung. Oder?
Bekannt ist der Fall, in dem sich Stalin in ein Foto neben Lenin hineinretuschieren liess, um sich der Öffentlichkeit als legitimer Nachfolger des Revolutionärs zu präsentieren. Trotzki dagegen liess er gleich aus einer Vielzahl Fotos entfernen – eine Entfernung aus der Realität, bevor er ihn 1940 tatsächlich ermorden liess.
Die Manipulation von Fotos ist immer noch gegenwärtig. Man muss gar nicht bis nach Nordkorea schauen, wo Personen, Wagen und Panzer auf den Fotos der Trauerfeier für Kim Jong Il offenbar nach Belieben verschoben wurden, ehe die Bilder der Öffentlichkeit zugängig gemacht wurden. Im Mai 2011 veröffentlichte das chasidische Wochenblatt „Di Tzitung“ ein retuschiertes Foto.
Im Original war die Reaktionen von Präsident Obama sowie seines Sicherheitsteams auf die Nachricht von der Ermordung Osama Bin Ladens darauf zu sehen. In der von „Di Tzitung“ (und wenig später vom Brooklyner Magazin „De Voch“) verbreiteten Version fehlten Hillary Clinton und Audrey Tomason. Die Blätter erklärten die eigenwillige Fälschung damit, dass die bildliche Darstellung von Frauen in ihrem Glauben nicht statthaft sei.
Bilder sind der große Wirklichkeitsmacher des 20. und sicher auch des 21. Jahrhunderts. In Ridley Scotts Dick-Verfilmung „Blade Runner“ sehen wir, wie Rick Deckard während seiner Ermittlungen buchstäblich in ein Bild vordringt und computerunterstützt Dinge im Bild auslotet, die die Kamera des Fotografen nie und nimmer erfasst haben kann. Woher weiss Decker, dass diese Dinge echt sind? Weil er sie sieht.
„Seeing is believing“ lautet eine gängige amerikanische Redensart.
Dabei ist grade dem, was man sieht, immer seltener zu glauben, weil die Möglichkeiten zu Bildmanipulation noch nie so leicht verfügbar waren wie heute.
Was uns wieder zur Fiktion zurückführt. Und zu einem großen, in diesem Zusammenhang kaum erforschten Medium, dem Comic. Der Comic ist klar ein visuelles Medium. Ebenso klar ist, dass die Dinge, die er abbildet künstlich sind. Er geht (in der Regel) nicht den Weg des Films, durch Fotorealismus Realität vorzugaukeln.
Die Idee, eine Welt durch Striche, Konturen, Schraffuren und ähnliches darzustellen, ist ehrlich künstlich. Der Comic als bekennendes Medium der Fiktion sollte ideal dafür geeignet sein, Fiktionen wiederzugeben – anders gesagt, Welten, die nicht nach zwei Tagen auseinanderfallen. Und doch scheitert er genau daran.
Es gibt Unmengen guter und sehr guter Comics. Die wenigsten von ihnen sind der Science Fiction zuzuordnen. Woran liegt das?
Klar ist, dass der Comic Zeit seines Bestehens – verblüffenderweise fällt seine Geburtstunde praktisch mit der des Kinos zusammen, um 1900 herum – hervorragendes im Bereich der Rekonstruktion der Realität geleistet hat.
Es war ihm quasi in die Wiege gelegt: die ersten modernen Comics, also die Erzählung von Ereignissen in Bildfolgen statt in Einzelbildern, erschienen in Tageszeitungen im New York der Jahrhundertwende. New York war zu der Zeit ein Schmelztiegel der Sprachen, verursacht durch die Vielzahl Einwanderer aus allen europäischen Ländern.
Der Comic als bildbasiertes Medium war in der Lage, das babylonische Sprachgewirr zu durchdringen. Formal mag der Comic zu der Zeit als Rückschritt erschienen sein – von der Abstraktion der Sprache zur Deabstraktion des Bildes – praktisch war er ein gewaltiger Fortschritt in der Verständigung und Verständlichmachung der Einwanderer. Sicher nicht zufällig spielte einer der frühesten Comics, Richard Outcaults „The Yellow Kid“, in in den multilingualen New Yorker Hinterhöfen.
Gerade die ersten vier Jahrzehnte des Comics bemühten sich in dieser Tradition um möglichst realistische Darstellungen. In dieser Zeit erschienen Comics praktisch ausschliesslich in Tageszeitungen (eigenständige Comichefte wurden erst in den Dreissigerjahren erfunden).
Die nahe Verwandtschaft zum Journalismus legte diese Bodenständigkeit scheinbar nahe. Comicstrips aus dieser Zeit erzählen bevorzugt von armen und Mittelstandfamilien, von Tramps im amerikanischen Westen und ähnlichen, für die damalige Zeit alltäglichen sozialen Phänomenen.
Natürlich gab es Ausnahmen.
Winsor McKays „Little Nemo in Slumberland“, erschienen ab 1905, war eine Abfolge brillanter, im Format einer kompletten Tageszeitungsseite gestalteter Traumsequenzen.
Sich den Theorien zu Traum und Unbewusstem von Freud und Jung annähernd, schuf McCay in seinem Comic eine atemberaubend aus allen Fugen geratene Traumwelt voller bizarrer Geschöpfe und verquerer Vehikel, die nicht zuletzt durch ihre expressionistische Darstellung immer wieder beeindruckte.
Eine weitere Ausnahme der frühen Jahre ist George Herrimans „Krazy Kat“ (erschienen ab 1913). Angesiedelt im fiktiven Landstrich Coconino County, erzählt er die Geschichte einer Katze, die in eine Maus verliebt ist und zum Dank dafür von dieser immer wieder einen Ziegelstein an den Kopf geworfen bekommt – was sie natürlich erst recht als Liebesbeweis ansieht.
Nicht der krude Humor dieser aberwitzigen Liebesgeschichte macht freilich den Reiz des Comics aus. Sondern die bizarre Landschaft des Coconino County, eine Wüstengegend, in der Tag und Nacht eher spontan als zyklisch abwechseln, an deren Himmel seltsam grüne, rote oder käsige Monde hängen (gelegentlich auch mehr als einer) und wo seltsame Bewohner in seltsamen Häusern wohnen. Der äusserst surreale Strip war Pablo Picassos Lieblingscomic, aber kein Erfolg bei der Masse.
Zwei Welten – und dennoch zwei Ausnahmen. Erst ab den Dreissigerjahren mehrten sich die phantastischen Themen im Comic („Buck Rogers“, ab 1929; „Flash Gordon“, ab 1934; der ebenfalls eher realitätsferne Detektiv „Dick Tracy“ ab 1931).
Während diese und alle vorher genannten Comics zuerst in Tageszeitungen erschienen, erlebte die Science Fiction im Comic ihren endgültigen Durchbruch allerdings im Format der Comichefte ab 1938 mit der Erfindung von „Superman“.
Qualitativ stellten allerdings gerade die Superheldencomics einen vorläufigen Rückschritt dar.
Gestaltet oft für niedrigste Honorare von Berufseinsteigern, besassen sie nur selten die erzählerische Qualität der Comics in den Tageszeitungen, deren Zeichner häufig gut bezahlt und mitunter sogar Medienstars waren.
Erst Jahrzehnte später konnten die Superheldenhefte der Kriegs- und Nachkriegszeit zu dem qualitativen Niveau aufschliessen, dass die Comicstrips der Tageszeitungen der Vorkriegszeit vorgelegt hatten.
Ähnlich in Europa. Als Hergé ab 1929 „Die Abenteuer von Tim & Struppi“ (OT „Tintin“) und damit den ersten europäischen Comic veröffentlichte, wies der zwar gelegentlich phantastische Elemente auf, war aber vor allem tief in der Realität verwurzelt. Das erste Comic-Abenteuer führte den fiktiven Reporter (den man nie sieht, wie er eine Reportage schreibt!) in die Sowjetunion, das zweite in die damalige Kolonie Belgisch-Kongo. Diese Comics sollten Realität vermitteln – ob sie das wirklich immer taten, ist natürlich debatabel.
Verantwortlich für die ersten im europäischen Raum enstandenen Science-Fiction-Comics waren indirekt ausgerechnet die Nazis. Als während der deutschen Besatzung Frankreichs diverse französische Tageszeitungen vom Nachschub der amerikanischen Comicstrips quasi über Nacht abgeschnitten waren, mussten einheimische Zeichner auf die Schnelle die begonnenen Abenteuer u.a. von Flash Gordon selbst weiterführen. Die Comics waren so populär, dass ein Abbruch der Erzählung selbst unter so schwierigen Bedingungen nicht denkbar schien!
Diese „Plagiate“ waren Keimzelle für den Science-Fiction-Comic in Europa, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg entwickeln sollte, als schliesslich sogar Hergé – in einem prachtvollen zweibändigen Abenteuer – seinen sonst so bodenständigen Helden zum Mond schickte.
In Japan entwickelten sich Comics im modernen Sinne – dort Manga genannt – überhaupt erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Vorher dominierte eine Form der Bilderzählung, die sich auf einfachste Witze in einem bis maximal vier Bildern beschränkte.
Erst durch die Arbeit des atemberaubend produktiven Osamu Tezuka – 170.000 Comicseiten soll er gezeichnet haben – begann sich dieser Zustand ab 1948 zu wandeln. Tezuka erfand nicht nur die ersten längeren japanischen Comics, sondern war auch in nahezu jedem Genre der erste japanische Comiczeichner, der einen Beitrag dazu lieferte. Tezukas „Astro Boy“ (OT „Tetsuwan Atomu“, ab 1952) war der erste Science-Fiction-Comicheld Japans. Der Roboter in Gestalt eines neunjährigen Knaben wird von einem Mini-Atommeiler betrieben und tritt bevorzugt gegen amoklaufende oder von ihren Besitzern fehlgeleitete Robots an.
Juli 27th, 2012 at 08:18
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