Wieso gibt es so viele gute Comics, aber so wenig gute Science-Fiction-Comics? Teil 1 des umfangreichen Essays für das Conbuch des Elstercon 2012 war gestern zu lesen. Heute Teil 2 mit Alan Moore, Naoki Urasawa, Moebius und der K.u.K.-Monarchie.

Ist es also diese historisch hier nur äußerst kurz und unzureichend skizzierte Entwicklung, die dafür sorgte, dass es so wenig nennenswerte Science-Fiction-Comics gibt?

Liegt es daran, dass der Comic seiner Entstehung nach sehr viel mehr dem Realismus als der Phantastik verpflichtet war und sich phantastische Comics nur entweder im Umfeld des Trivialen (Superheldencomics in den USA), in Notsituationen (während der französischen Besatzung) oder aus einer absoluten Aufbausituation heraus (Manga in Japan) entwickeln konnten, also innerhalb gewisser Blasen, die ihre kulturelle Entwicklung verzögerten oder einengten?

Natürlich gibt es gute und sehr gute Science-Fiction-Comics, die sowohl den notwendigen Maßstäben des Fiktionalen (also der in sich schlüssigen Inkonsistenz zur Realität) als auch den allgemein gültigen literarischen Maßstäben gerecht werden.

Zu nennen wären etwa „V for Vendetta“ und „Watchmen“, beide getextet von Alan Moore (und beide deutlich unter ihrer Vorlage verfilmt) mit ganz und gar eigenständigen, hochkomplexen Weltentwürfen. Oder aus Japan Naoki Urasawas „20th Century Boys“, ein umfassender Weltuntergangsthriller in den Fußspuren von Philip K. Dick: was wäre, wenn all deine Kindheitsträume wahr würden und die Welt daran zugrunde geht?

Auch der bereits erwähnte Osamu Tezuka hat mit „Phoenix“ einen essentiellen Beitrag zum Genre geleistet. In der umfangreichen Erzählung (5.000 Seiten und ein Kinofilm) präsentiert er die gesamte japanische Geschichte mehrere Jahrtausende in der Vergangenheit bis mehrere Jahrtausende in der Zukunft, wobei er die Zeitebenen komplex und mit altgriechischen und buddhistischen Mythen durchwoben miteinander verknüpft.

Aus Europa wären mindestens die Comics „Arzach“ und „Die hermetische Garage“ des Zeichners Moebius zu nennen, zwei Experimente in instinktivem, planlosen Erzählen, deren absurde ausserplanetarische Weltenschöpfung verblüffende ideele Verwandtschaft etwa zu „Little Nemo“ und „Krazy Kat“ aufweist.

Die meisten Science-Fiction-Comics, statt den Leser herauszufordern, beschränken sich allerdings auf den Schauwert.

Während der Comic fraglos gewaltiges im Bereich der Rekonstruktion der Realität geleistet hat (zu erwähnen wären nur beispielhaft die Graphic Novels von Will Eisner oder Art Spiegelmans fabelhafte Aufarbeitung von Auschwitz als Tierfabel, „Maus“), ist seine Konstruktion von Realität häufig schablonenhaft.

Es sind die Muster des Pulp, die gewaltigen Raumschlachten, geifernden Aliens, halbnackten (wenn überhaupt) Heroinen und knackig-markanten Heroen, die das Genre, meist noch ironisch ungebrochen bevölkern.

Natürlich kann es daran liegen, dass der Comic es so leicht wie kein anderes Medium macht, einen Schauwert zu liefern. Comics zu lesen heisst Comics zu sehen (und das ist mehr, als sie nur zu betrachten, es heisst, wirklich die Bilder zu begreifen), und was man sieht, ist im simpelsten Fall mit einem starken Bleistift zu erzeugen. (Im Realfall braucht es dazu aber noch mindestens etwas Tusche bzw. in der Gegenwart ein digitales Zeichentablett.)

Der Comiczeichner kann als Einzelkämpfer leisten, wozu es im Film gewaltige Crews, umfangreiche Vor- und Nacharbeiten braucht. Und er ist weniger abstrakt – transkribierend – als die Realität.

Aber ist die Antwort so einfach, dass sich Comiczeichner von den Verlockungen des einfach Machbaren hinziehen lassen zu einer rein exploitativen Weltenschöpfung?

Denkbar ist auch eine deutlich komplexere Antwort. Anders als die moderne Science Fiction, deren Anfänge sich aus einer Vielzahl Vorläufer speisten, die sich auf so unterschiedliche Ideengeber wie Cyrano de Bergerac, Jules Verne oder Edgar Rice Bourroughs stützen konnte, entstand der fantastische Comics wie oben geschildert in Ausnahmesituationen.

Es fehlte ihm oft das Tradiierte, die externe Basis, die die SF-Literatur so reichhaltig aufweisen konnte und die den postmodernen Zyklus aus Schöpfung und Zitat – den Dynamo der literarischen Erzählung – in Gang setzen konnte.

Grade Comicautoren wie die oben genannten Alan Moore und Naoki Urasawa stützen sich in ihren Werken immer wieder auf comicexterne Quellen, um das Medium damit zu bereichern und befruchten. (Und tatsächlich gelingt ihnen das sogar.)

Einen ganz ähnlichen Weg gehen Benjamin Schreuder und Felix Mertikat mit „Steam Noir“. Die arbeitsteilige Schöpfung ist durchaus comictypisch, Benjamin Schreuder ist der Autor (zumindest des ersten Bandes), Felix Mertikat der Zeichner. Die Zusammenarbeit von Autor und Zeichner hat sich in der Vergangenheit bereits häufig als befruchtend erwiesen.

Beide sind noch jung. Schreuder ist Jahrgang 1981, Mertikat Jahrgang 1983. Woher sie ihre Ideen nehmen, war bereits an ihrem Comicerstling zu erkennen. „Jakob“, im ungewöhnlichen Breitwandformat erzählt, handelt von dem achtjährigen Jakob, der versucht seiner Mutter zu folgen, die auf „eine lange Reise“ gegangen ist. Es ist, natürlich, der Tod.

In die Gestaltung der Odyssee vermengen Mertikat und Schreuder Elemente der Fabel, wenn sie Jakob einen sprechenden Raben zur Seite stellen, des deutschen Märchens bei Jakobs Wanderung durch den Wald, aber genauso der deutschen Industrialisierung bei der Gestaltung von Häusern und Städten.

„Jakob“ ist ein hervorragender Comic, für den Mertikat und Schreuder 2010 den Sondermann-Newcomer-Preis der Frankfurter Buchmesse erhielten (woran der Autor dieser Zeilen, das soll nocht verschwiegen werden, nicht ganz unschuldig ist). Vor allem aber ist es ein europäischer Comic, der seine Ideen aus der Gedankenwelt, Überlieferung und Historie Europas bezieht.

Das ist ein stabiles geistiges Fundament.

Auf dem auch „Steam Noir“ aufbaut, der zweite Comic des Teams. Er ist schon sehr viel eher ein Science-Fiction-Comic als „Jakob“. Dampfgetriebene, schmierfettgehaltene Prothesen, ein Herz aus Kupfer und Roboter bestimmen optisch das Szenario, das von den Ermittlungen des Heinrich Lerchenmann handelt.

Lerchenmann ist Bizarromant, im Kontext der Erzählung heisst das, er ermittelt in Sachen verschollener oder entkommener Seelen. Wo spielt das ganze? Auf einer Welt, die – sicher nach mehr als zwei Tagen – auseinander gebrochen ist, im All treibende Weltenfragmente, die durch ein Stahlgerüst miteinander verschweisst sind.

Kulturell erinnert das Fragmentkonglomerat an die K.u.K.-Monarchie, die Orte heissen Landsberg, Januskoogen, Schierling – und Vineta, der Ort der Toten, zu dem die Seelen gehen oder von dem sie entfliehen.

Wieder sind die selben ideellen Grundlagen gelegt. Das diesmal deutlich stärker kerneuropäische Setting, verknüpft hier allerdings mit typischen SF-Ideen wie Cyborgs und Robotern. Und doch trägt das alles erneut eine Geschichte, die im besten Sinne Science Fiction ist, nämlich in dem, eine Welt zu erschaffen und zu erkunden.

Eine Welt, die den Leser manipuliert, sie für real anzunehmen, und die, obwohl sie von Fragmenten handelt, wohl nicht allzubald auseinanderfallen dürfte – denn weitere Bände sind in Arbeit.

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Anmerkung: Felix Mertikat und Verena Klinke waren Gäste des Elstercon 2012, der Aufsatz erschien im Umfeld eines Interviews und einer kurzen Werkschau zu „Steam Noir“.

One Response to “Komm, wir machen uns was vor! (Teil 2)”

  1. Stefan Pannor » Blog Archive » Komm, wir machen uns was vor! (Teil 1) says:

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