Da war doch noch was. Mindestens vierundzwanzig Texte, die schon längst in diesem Blog stehen sollten, aus diesem oder jenem Grund aber nicht hier landeten. Als kleiner Weihnachtskalender finden sie jetzt Verwendung. Heute: eine Hommage an H.P. Lovecraft von Alan Moore.

Es ist sicher nicht ungerecht, Alan Moore als Taschenspieler zu betrachten. Einen, der auf der großen Bühne aufsehenerregende Shows abzuziehen vermag, aber auch im kleinen Kreis hinreißende Kunststückchen hinbekommt. „Neonomicon“ ist sowas, eine kleine Demonstration nebenher, und hinterher läßt der Künstler den Hut rumgehen.

Denn „Neonomicon“ entstand zuallererst aus finanziellen Gründen: Moore hatte Steuerschulden, und am einfachsten war es, die mit dem Honorar eines Comicskripts abzugleichen.

Dass er das ausgerechnet an den Gerümpel-Verlag Avatar, bekannt für mäßige Slasher-Fiktion und drittklassige Sequels bekannter Filme, vertickte, ist naheliegend, hatte er dort doch schon Nachdrucke einiger seiner weniger bekannten Titel aus den Neunzigerjahren untergebracht.

Dankbar kaufte der Verlag auch Rechte an Prosatexten Moores ein, um die dann als Comic zu adaptieren. Dazu zählt „The Courtyard“, eine Kurzgeschichte von 1994, die von „Wasteland“-Autor Anthony Johnston und Jacen Burrows als zweiteilige Miniserie umgesetzt wurde.

Die recht belanglose Geschichte über einen rechtsextremen FBI-Agenten, der Ctulhu-Kultisten auf die Spur kommt und durchdreht, ist eine klare Hommage an H.P. Lovecraft. Wie in den Texten des klassischen Horrorautors geht es auch in dieser Episode weniger um eine nachvollziehbare Geschichte als mehr um die Darstellung einer morbiden Atmosphäre und die Schilderung irrationaler Ereignisse.

Rückblickend erwies sich „The Courtyard“ als Prolog für „Neonomicon“, ebenfalls im amerikanischen Original als Miniserie bei Avatar erschienen, diesmal allerdings, wie gesagt, geschrieben von Moore selbst, gezeichnet erneut von Burrows. Aus gutem Grund finden sich also beide Miniserien hier in einem Band.

Moore greift den Faden dort wieder auf, wo er am Ende von „The Courtyard“ liegen geblieben war, mit weiteren FBI-Agenten, die den Spuren des selben Ctulhu-Kultes folgen. Das folgt einem vertrauten Handlungsmuster der Horrorliteratur: rationale Akteure – hier die FBI-Agenten – kommen absolut irrationalen Ereignissen auf die Spur, hier den von Lovecraft geschaffenen Fisch- und Echsenmonstern des Ctulhu-Kultes.

Auffällig an der Erzählung ist der für Moore ungewöhnlich hohe Gore-Faktor, wie man ihn zuletzt bei den wenigen Skripten des britischen Autors für Todd McFarlanes „Spawn“-Serie sehen konnte. Mehr noch als um Gemetzel geht es aber um Sex.

Moore inszeniert eine oberflächlich betrachtet verstörend voyeuristische Erzählung über satanische Swingerriten und Fischmonstervergewaltigungen, die drastisch, vor allem aber ganz sicher nicht jugendfrei sind.

Ist Moore hier abgerutscht in die schmierige Welt des Snuff-Porn? Nein. Tatsächlich ist „Neonomicon“ eine schwarze Komödie, die genau mit diesen Klischees spielt. Weil in Lovecrafts originalen Erzählungen Sex, ja sogar Frauen, überhaupt jede Art engerer zwischenmenschlicher Beziehungen so auffällig abwesend ist, drückt Moore all diese Dinge um so offensiver in „Neonomicon“ rein.

Der Witz ergibt sich dabei aus der unglaublichen Dichte all dieser Dinge, der Gegenüberstellung der kaputten, ihre eigenen Triebe genau wie Lovecraft unterdrückenden FBI-Agenten einerseits und den fast schon ästhetischen, ihre Triebe auslebenden Fischmonstern andererseits, deren Zusammentreffen, naheliegend, in einer Katastrophe mündet.

Und nicht zuletzt aus der Umdeutung klassischer Motive und dem verqueren Zusammensetzen trivialliterarischer Zitate, wie Moore es auch in seiner „Liga der außergewöhnlichen Gentlemen“ betreibt. (Dort, zugegeben, mit mehr Verve und Energie.)

Daneben ist Moore, und das lässt sich nicht leugnen, ein versierter Erzähler. Wie keinem anderen lebenden Comicautor gelingt es ihm selbst in diesem, eher nebenher rausgerotzten Skript, seinen Figuren mit einem Nebensatz oder einem hingeworfenen Fakt Tiefe und charakterliche Glaubwürdigkeit zu verleihen.

Fraglos ist „Neonomicon“ kein Hauptwerk. Dafür allerdings ein schönes Stück Horrorliteratur, das in seiner geradlinigen Handlungsführung als Hommage zu verstehen ist, dank der gnadenlosen Übertreibung und Gegenüberstellung diverser Horrorklischees aber vor allem als extreme Komödie gelesen werden sollte.

Panini Comics, 148 S.; € 16,95

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    2 Responses to “Der Rest vorm Fest (06): Neonomicon”

    1. Oliver L. says:

      Cthulhu heißt der!

    2. Stefan Pannor » Blog Archive » Der Rest vorm Fest (23): Don Quijote says:

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