Da war doch noch was. Mindestens vierundzwanzig Texte, die schon längst in diesem Blog stehen sollten, aus diesem oder jenem Grund aber nicht hier landeten. Als kleiner Weihnachtskalender finden sie jetzt Verwendung. Heute: das Leben im kommunistischen Polen als Comic.

Das Leben im Ostblock aus Kinderperspektive: nichts Neues. Aber selten wurde dieses Konzept so konsequent umgesetzt wie in der Graphic Novel Marzi.

Comics aus Polen, ja überhaupt Comics aus dem Ostblock sind eine Seltenheit. Bedingt durch die Comicfeindlichkeit der meisten früheren Ostblockstaaten dominieren Karikatur und Bildwitz. Zwar gibt es inzwischen eine Comicszene in den Ländern hinter dem ehemaligen eisernen Vorhang. Sie hat es aber bis dato praktisch ausschließlich zu regionaler Prominenz gebracht.

„Marzi“ nun ist kein genuiner Ostblockcomic. Der Zeichner ist Franzose. Man sollte sich vor Augen halten, dass vieles, was in diesem Buch graphisch aus den letzten Jahren des kommunistischen Polen dargestellt wird, demnach aus zweiter Hand stammt.

Was Savoia allerdings zeichnet, sind die Erinnerungen seiner Freundin Marzena „Marzi“ Sowa, die – Jahrgang 1979 – den Niedergang des polnischen Kommunismus selbst erlebt hat.

Und ebenso verarbeitet. Die umfangreiche Erzählung (die wohl auch längst noch nicht abgeschlossen ist), teilt sich in zwei bis zehn Seiten lange Episoden, die weniger politische Analyse bieten, als Bruchstücke einer Erinnerung aus einer anderen Zeit, den Jahren von 1984 – 1987.

Kindheitserinnerungen verfallen schnell, oft zu schnell in Nostalgie. Bei „Marzi“ stehen dem Savoias zweifarbige, dicht an der Grenze zum Monochromen liegende Zeichnungen im Weg. Die sind, trotz der niedlichen Zeichnung der Titelfigur, trocken, reduziert und nüchtern.

Im gewohnten Sinne kann man das, was Savoia zeichnet, auch kaum Comic nennen. Zwar in einzelne Panels aufgeteilt, beinhalten die Bilder kaum Sprechblasen. Sie sind Illustrationen für Sowas über und unter den Bildern laufenden Text.

Das zum anderen verhindert jede Nostalgie. Sowas Prosa ist minimalistisch, naiv und nicht in der Rückschau verfasst, sondern als gegenwärtiges Erleben ihres kindlichen Alter ego.

Als solche erzählt sie von dem, wie man als Kind eine Diktatur wahrnehmen kann: durch bizarre Rituale wie der zwangsweise Aufmarsch zum 1. Mai, durch das ewige Schlangestehen, die dann doch leeren Regale in den Läden.

Durch die sozialen Unterschiede zwischen denen, die Westverwandtschaft haben, und denen die nicht. Dadurch, dass ein Kind die bunteren Spielsachen und hübscheren Kleider haben kann, weil sie aus Frankreich oder der Bundesrepublik stammen, in die man nicht einfach fahren darf.

Wie konstant Sowa die Perspektive des naiven, verträumten, mitunter bratzigen Mädchen durchhält, ist beeindruckend. Das und der episodische Charakter des Buches machen es freilich auch schwer, „Marzi“ am Stück zu lesen, weil dann doch einiges redundant, in seiner Naivität etwas nervig wirkt. Andererseits erwächst aus der Naivität der Erzählfigur ein Großteil der Comic des Buches.

Spätestens wenn die Erzählung auf reale politische Ereignisse zu sprechen kommt, etwa das Verbot von „Solidarnosc“, entstehen Lücken in der Erzählung, die mangels Erläuterung einen historisch vertrauten Leser voraussetzen.

Das allerdings sind marginale Schwächen. Unterm Strich bietet „Marzi“ eine angemessene, weder dämonisierende noch verherrlichende Ostblock-Erinnerung, trotz ihres naiven Tonfalls grade in der Schilderung der Lebensverhältnisse überaus realistisch und trotz der Darstellung von Repression voll komischer Momente. Sehr zu empfehlen.

Panini, 224 S.; € 24,95

Der Rest vorm Fest:

01 – Israel verstehen in 60 Tagen oder weniger
02 – King Aroo
03 – Comic Noir
04 – Habibi
05 – House of Mystery
06 – Alan Moores Neonomicon
07 – The Unwritten
08 – Frostfeuer
09 – Zahra’s Paradise
10 – Spirou
11 – Johann & Pfiffikus
12 – Kimba vs. Gon
13 – Asja Wiegand & Ulf Salzmann
14 – Asterios Polyp
15 – Der Tod des ultimativen Spider-Man
16 – „Jerusalem“ von Guy Delisle
17 – „Packeis“ von Simon Schwartz
18 – Ich habe Adolf Hitler getötet
19 – „Gastoon“ und „Marsu Kids“
20 – 2 x Isabel Kreitz
21 – Das Inferno!
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23
24

One Response to “Der Rest vorm Fest (22): Marzi”

  1. Stefan Pannor » Blog Archive » 3 auf 1: The Last of Us im wahren Leben says:

    […] zeugen Titel wie „Israel verstehen in 60 Tagen oder weniger“ oder „Marzi“. „Alicia im wahren Leben“ kann als erster wirklicher Ausfall dieser bis dahin erzählerisch wie […]