Vier Comics beschäftigen sich mit Flüchtlingsschicksalen – und erzählen die Geschichte eines unglaublichen Wegs.
1994 machte ich in Magdeburg eine Reportage über die Lage der Asylbewerber in der Stadt. Man hörte schon damals nichts Gutes über deren Situation: die eine Hälfte war mehr oder minder eingeknastet hinter hohen Mauern mit Stacheldraht einer ehemaligen Kaserne der Sowjetarmee. Das war ein privater Betreiber, der keinen Kontakt und keine Öffentlichkeit wünschte. Die andere Hälfte war auf städtisches Betreiben in einem runtergewirtschafteten Neubaublock in einem der dunkleren Stadtteile Magdeburgs untergebracht. Immerhin: mit denen durfte ich reden, die Stadt hatte nichts dagegen. Es ging den Flüchtlingen, den Umständen entsprechend, gut.
1997 wiederholte ich das Thema in Leipzig. Die Flüchtlingsunterbringung der Stadt war eine Reihe Neubaublocks, gegen die das Heim in Magdeburg frisch und wohnlich wirkte, hinter großen Drahtzäunen, an einer Autobahnzufahrt. Die Blocks steht immer noch, sind immer noch in Betrieb, in zwanzig Jahren wurde kaum ein Handschlag daran gemacht. Die sanitären Zustande sind fürchterlich, die Bausubstanz schlicht kurz vor dem Zusammenbruch. Nur die Zäune werden in Schuß gehalten.
Es sind Erinnerungen, unweigerlich geweckt von der Lektüre von „Im Land der Frühaufsteher“. Zum Heim? „Da habenses aber noch ganz schön weit“, sagt die alte Frau, nach dem Weg zur Flüchtlingsunterkunft gefragt. Eine Stunde mit dem Rad, und bergauf. Flüchtlinge wurden in Deutschland über Jahrzehnte am Stadtrand versteckt, nicht nur in Magdeburg und Leipzig. Paula Bulling schildert das in ihrer Comicreportage aus dem Hallenser Raum minutiös. Es ist eine eigene Welt, eine arme Welt, auf die sie in ihrer Recherche gestoßen ist: Essensgutscheine für ein Minimalfrühstück, selber gekocht wird auf den Gängen (wo es Steckdosen gibt). Kontakte zu Einheimischen sind schon deshalb rar, weil die Unterkunft, wo die Menschen in Mehrbettzimmern zusammengepfercht sind, ohne Busanbindung ganz weit draussen liegt. Die vielbeschworene Integration, sie wird bereits rein geografisch erschwert.
Bulling hat mehrere Heime besucht, die alle wirken wie aus dem selben Baukasten für Ostblock-Neubauten auf die Wiese geknallt. Hässliche Betonquadrate, alle die gleichen Fenster, alle die gleichen Türen. (Die in Leipzig sehen auch so aus.) Wer das sieht, hat unweigerlich den Eindruck, die Flüchtlinge sollten das Leben führen, dem die Ostdeutschen selbst 1989 entkommen sind, in den sogenannten „Arbeiterschließfächern“, nur noch mehr auf weniger Raum.
Wie ein Land mit seinen Flüchtlingen umgeht, sagt viel über das Land aus. Sachsen-Anhalt, Ostdeutschland allgemein, neigte dazu, seine Flüchtlinge am Rand der öffentlichen Wahrnehmung unterzubringen. Zumindest solange das noch möglich war (das ist es inzwischen nicht mehr). Die Flüchtlingskatastrophe ist in gewisser Hinsicht auch die Chance, die Flüchtlinge sichtbar zu machen.
Sichtbarkeit ist das Ziel von Ville Tietaväinens Semi-Comicreportage über Flüchtlinge. Der Titet deutet es bereits an. „Unsichtbare Hände“, für das er mehrere Monate recherchiert, an dem er mehrere Jahre gearbeitet hat, ist keine Comicreportage, wie bei Bulling, aber so dicht auf, wie es nur geht. Die fiktive Figur des Rashid, der aus Marokko den illegalen Übergang nach Europa sucht, steht stellvertretend für einen Teil der Flüchtlingskatastrophe, die in aktuellen Nachrichten kaum beleuchtet wird. Rashid landet am Ende seiner teuer bezahlten und lebensgefährlichen Flucht über das Mittelmeer in den gewaltigen Gemüseplantagen Südspaniens.
Es sind gewaltige Farmen, Tietäväinen lässt sie eine seiner Figuren „die vierte Welt“ nennen, ein Staat im Staat für den Anbau von Zucchini und Auberginen, in denen die rechtelosen Arbeiter für einen Hungerlohn die gewaltigen Felder von Hand bearbeiten müssen, ungeschützt Pestizide ausfahren und in Wellblechhütten eng gedrängt hausen. Man darf diese Farmen nicht besuchen, sie sind nicht zuletzt aufgrund ihrer hermetischen Abriegelung gegen die Außenwelt kaum Thema in den Medien. Es ist die Wiederkehr des Manchester-Kapitalismus: Rashids Kosten (für Unterkunft und Essen) übersteigen stets die Einnahmen durch seine Arbeit, er steckt im unausbrechlichen Kreislauf aus Schulden und Tilgung. „Unsichtbar“ heisst hier: von niemand gesehen, weil viel zu viele Menschen ein Interesse daran haben, dass diese modernen europäischen Sklaven, die das billige Gemüse für die Supermärkte heranziehen, außerhalb des Blickfelds bleiben.
Tietaväinen gibt zu, dass er seit den Recherchen für dieses Buch kaum noch ohne Wut durch die Gemüseabteilung eines Supermarktes gehen kann (im privaten Gespräch mit dem Autor auf der Buchmesse). „Unsichtbare Hände“, entstanden 2011, ist ein Buch, das den Traum von Europa ausräumt. Rashid scheitert an Europas Außengestaden, wo nicht das Militär, sondern der Kapitalismus einen undurchdringlichen Wall errichtet hat.
Und es geht noch schlimmer. 2013 hat Reinhard Kleist ein ARTE-Team in den Nordirak begleitet, in das Flüchtlingslager Kawergosk. Schon in seinem Reisetagebuch „Havanna“ hat sich Kleist als fähiger und schneller Beobachter der Lebensrealität erwiesen. Die Kawergosk-Reportage, die afgrund des geringen Umfangs lediglich in einem Gratis-Comic-Tag-Heft gedruckt vorliegt, erweist ihn auch unter den weitaus schwierigeren Bedingungen des Flüchtlingscamps als versierten Schilderer. Wobei er sich gar nicht müht, Distanz zu wahren: „Ich muss mit den Tränen kämpfen“, schreibt er angesichts der Schilderung der Schicksale von Flüchtlingskindern.
Vor allem aber schildert er in wenigen Worten und Bildern die Lagerrealität. Ein Alptraum im Vergleich zum sachsen-anhaltinischen Mief: Zelte, die kaum gegen die Kälte schützen, knöcheltiefer Schlamm bei Regen, Regendrainagen in den Zelten, damit es nicht die Zelte wegspült, hoch brandgefährliche Koch- und Heizstellen. Zum Zeitpunkt des Verfassens dieser Zeilen leben mehr als 10.000 Flüchtlinge in Kawergosk.
Man kann annehmen, dass auch dieses Erlebnis Kleist in seiner Recherche und Umsetzung der Fluchtgeschichte von Samia Yusuf Omar befeuert hat. 2008 hatte die Somalierin bei den Olympischen Spielen als Sprinterin für ihr Land teilgenommen – das selbe Jahr, in dem es zu langanhaltenden Kämpfen um Mogadischu kam, Hauptstadt des Landes und Omars Heimatstadt. 2011 verliess Omar Somalia nach Äthiopien, um dem vor allem gegen Frauen zunehmend repressiveren Regime zu entgehen.
Kleist hat dem Buch von der Geschichte von der Flucht Omars – die letztlich 2012 im Mittelmeer ertrank – eine Karte ihres Wegs vorangestellt. Es ist eine für westliche Verhältnisse beinahe kurze Strecke, kaum 8.000 Kilometer: kürzer als die Urlaubsstrecke vieler deutscher Touristen. Für Omar ist es ein tragischer, ein erschöpfender Weg, durch Lybien und den Sudan, bis in die Hände von Mittelmeerschleppern.
Kleist zeigt das andere Ende des Flüchtlingsschicksals von Bullings Sachsen-Anhalt-Reportage. Es lohnt, diese beiden und Tietäväinens Buch in der „richtigen“ Reihenfolge zu lesen, als Darstellung der Flüchtlingsschicksale, von denen die wenigsten in Deutschland enden, die meisten in Nordafrika und an den europäischen Außengrenzen. Sie setzen, auf bittere, emotional mitunter kaum erträgliche Weise, die Relationen grade in einer Flüchtlingsdebatte, die viel zu oft aus rein europäischer Perspektive geführt wird.
Reinhard Kleist: Der traum von Olympia, Carlsen Comics, 152 S.; € 17,90
Reinhard Kleist: Kawergosk – 5 Sterne, in Reinhard Kleist: Backstage, Carlsen Comics, Gratis Comic Tag 2015
Ville Tietäväinen: Unsichtbare Hände, Avant, 216 S.; € 34,95
Paula Bulling (mit Hilfe von Noel Kaboré): Im Land der Frühaufsteher, Avant, 125 S.; € 17,95
Entstanden im September 2015 für COMIX, veröffentlicht ebd.