In der Bibliothek der ungeschrieben Bücher (wie sie Neil Gaiman in seiner Sandman-Serie wunderbar beschreibt) hätte Alan Moore inzwischen vermutlich ein eigenes kleines Regal. Neben Twilight of the Superheroes, einem geplanten Abenteuer mit den Superhelden von DC, und Minutemen, einem Prequel zu Watchmen, neben abschliessenden Kapiteln seiner Superhelden-Hommagen 1963, Supreme, Glory und Youngblood stünde dort auch eine prachtvolle Gesamtausgabe von Big Numbers, einer zwölfteiligen Serie, die 1989 (prallel zu From Hell) begonnen, aber nie beendet wurde.

In unserer Welt ist es müssig, über diese Titel zu spekulieren. Die Ursachen für das Scheitern der Projekte (oft mitten im Lauf) ist vielfältig und reicht von Verlagspleiten bis zum Zerwürfnis Moores mit beteiligten Künstlern, Verlegern oder Redakteuren. Für Moore liegen all diese Dinge hinter ihm, er wird sie nie fortsetzen.

Im Falle von Big Numbers ist das allerdings wirklich tragisch. Ebenso wie das annähernd parallel begonne From Hell (jüngst auf deutsch wieder aufgelegt bei Cross Cult) stellt die Serie um den Bau eines Einkaufszentrums in England einen Versuch dar, sich durch die Zuwendung zum absolut realistischen von den eskapistischen und phantastischen Themen zu lösen, wie er sie vor allem bei DC Comics in den Jahren zuvor produziert hatte. Schon die Grafik beider Projekte macht klar, dass Moore (der seine Zeichner stets selber auswählt) mit der bunten Welt von DC nichts mehr zu tun haben wollte. Die in Schwarztönen und Schatten schwelgenden Seiten, die Campbell für From Hell zeichnete, und die schlierigen,fliessenden und kippenden Seiten Bill Sienkiewiczs für Big Numbers sind die Antithese selbst noch zuden realistischsten Superhelden-Comics.

Auch inhaltlich stellen beide Titel völlig unterschiedliche Ansätze dar, größtmöglichen Realismus zu erreichen. Ist es beim Jack-the-Ripper-Epos From Hell die bereits ans Manische grenzende Recherche (die Moore dann auch jeweils in den Anhängen der einzelnen Kapitel ebenso akribisch darlegte) zwecks der Rekonstruktion einer vergangenen Epoche, so kommt der Realismus bei Big Numbers über die Vielzahl von Charakteren zum Tragen, die jeweils ihre Sicht auf das scheinbar bedeutungslose Ereignis der Eröffnung eines Einkaufszentrum vermitteln.

Es steckt in dieser Zersplitterung und Zusammenfügung des Banalen (bei Moore fliesst auch noch eine ordentliche Portion Fraktalgeometrie und Chaostheorie mit hinein) viel von Thomas Pynchon oder von den Montageromanen eines Dos Passos. Oder anders gesagt: es steckt viel Literatur darin. Big Numbers ist ein verlorenes Kernwerk von Moore.

12 Bände sollten es werden. Zwei Ausgaben erschienen 1990, ehe Bill Sienkiewicz, der das ganze zeichnen sollte, den Kram hinschmiss, weil er mit der Komplexität der Aufgabe nicht zu Rande kam. Sienkiewiczs damals gerademal 19jähriger (!) Assistent Al Columbia übernahm die Aufgabe, scheiterte nach angeblich zwei weiteren produzierten Ausgaben aber ebenfalls. Die Gründe hierfür sind unklar. Es erschienen jedenfalls keine weiteren Ausgaben mehr, nur zehn Seiten von Columbias Arbeit Jahre später in einer Fachzeitschrift. Gerüchte gingen, Columbia hätte beim Zerwürfnis das gesamte Artwork vernichtet.

Zumindest letztere Aussage kann als falsch bewertet werden. Am 26.03. 2009 postete ein User namens Glycon eine vollständige Ausgabe 3 von Big Numbers. In Copyshop-Qualität, aber vollständig. Die Geschichte geht wie folgt.

Angeblich hat er im Januar die geposteten Kopien bei Ebay ersteigert. Der Bieter hatte diese Kopien wiederum von einer Bekannten aus einer Newsgroup, die wiederum über drei Ecken mit Moore bekannt war. In den neunziger Jahren sei sie in den Besitz des Artworks gelangt und habe für einige Mitglieder jener Newsgroup eine Handvoll Kopien angefertigt. Eine dieser Kopien wurde nun versteigert.

Alan Moore (der angeblich selbst keine Kopien dieser Seiten besitzt) hat die Echtheit der Ausgaben indirekt bestätigt und die Publikation im Netz gestattet. Es handelt sich um insgesamt 40 Seiten. Sie sind vollständig ausgearbeitet und gelettert.

Lesen kann man diese vollständige Ausgabe hier.

Und auch wenn man Bibliothekare nicht verärgern soll, weil sie einen wichtigen Job machen – es ist gut, dass der Bibliothek der unveröffentlichten Bücher ein weiterer Moore-Band entrissen wurde.

Edit: „Glycon“ ist Pádraig Ó Méalóid, ein irischer SF-Fan.

One Response to “Brandneues Altes von Alan Moore – ‚Big Numbers‘ #3 aufgetaucht!”

  1. Stefan Pannor » Blog Archive » Aktuelle Comicrezension (166): Die Liga der aussergewöhnlichen Gentlemen – 1910 says:

    […] Big Numbers #3 […]