Bei der dieswöchentlichen Rezension für die Leipziger Comic Combo entstanden quasi zwei Texte zum selben Buch – Shinanogawa Band 1 von Okazaki und Kamimura. Die Texte sind bis auf einige Sätze grundverschieden. Der knappere, pointiertere und meiner Meinung nach gelungenere Text erscheint auf den Seiten der Comic Combo. (Da werde ich zu gegebener Zeit drauf hinweisen.)

Der längere, aber auch nicht ganz uninteressante Text schon mal hier.

Hideo Okazaki/ Kazuo Kamimura
Shinanogawa

Die Eigenart vieler japanischer Comics – vor allem jener für Frauen – Gefühle nicht in abstrakter Form darzustellen, also etwa durch erklärende Worte, sondern ganz direkt bildlich, hat dem Comic einiges an neuen Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet. Wenn flirrende Blütenblätter eine frische Liebe symbolisieren oder aufknospende Rosen sexuelles Verlangen, dann ist das dem Leser ohne Umwege verständlich.

Die Schattenseite dieser Methode ist, dass damit oft die Grenze zum Kitsch überschritten wird. Wo bei einer einfachen Liebe gleich die ganze Natur visuell in Aufruhr gerät, da kann Hedwig Courths-Mahler nicht weit sein!

Das ist auch das Problem von „Shinanogawa“. Die für japanische Verhältnisse verblüffend kurze Serie (gerade einmal siebenhundert Seiten) erzählt die Geschichte der jungen Yukie, die sich zur Zeit der Großen Depression in einer von Japans rückständigsten Provinzen durchschlägt. „Shinanogawa“ ist dabei der Fluss, der jenes Gebiet durchschlängelt und in mehrfacher Hinsicht prägt: durch seinen Verlauf und durch die regelmässigen Hochwasser, die er bringt.

Schon in jungen Jahren hat Yukie mehrere Affären: mit einem Lehrer zum Beispiel und mit einem Mönch. Keine davon geht gut aus. Die Schule wird geschlossen und der Mönch verlässt Yukie. Dazu häufen sich weitere Schicksalsschläge, wie etwa, dass der Adoptivvater die junge Yukie vergewaltigt und die Mutter, die den Vater aufgrund ihrer nymphomanen Neigungen verlassen hat, einen frühen Tod stirbt. Schließlich geht das Familienvermögen von Yukie durch Wirtschaftskrise und einen Brand verloren. Und das ist erst die erste Hälfte der Geschichte.

Es ist eine Geschichte, die vor allem Tabus brechen soll. Neben den Anspielungen auf Inzest, Sex mit Minderjährigen und die Verletzung religiöser Gefühle findet sich auch noch fast explizit gezeigter Oralverkehr (inkl. Sperma im Gesicht). Respektspersonen wie etwa Yukies Vater werden durch einen fast krankhaften Hang zu Lustknaben und zur Travestie lächerlich gemacht.

Weil bei so viel Exploitation wenig Platz für eine vernünftige Dramaturgie bleibt, kommt Kazuo Kamimura ins Spiel. Den kennt man hierzulande von den drei Bänden „Lady Snowblood“, die er gezeichnet hat (und das ist wahrscheinlich auch der Grund, weshalb Shinanogawa auf deutsch erscheint). Das triviale Märchen von der Little Orphan Yukie setzt Kamimura in einem Stil um, für den der Ausdruck „expressiv“ noch untertrieben wäre. Hier sind die Naturgewalten permanent in Aufruhr, ständig rieseln Blüten oder Flocken vom Himmel, steigen Flüsse über Dämme, fällt nebeldichter Regen. Nicht nur die Natur spielt ihr Spiel mit dem Emotionen des Lesers. Ein Orgasmus wird durch einen permanent größer werdenden Mund dargestellt, Yukies Vergewaltigung durch ein paar knochenbleiche Körperteile in tiefem Schwarz symbolisiert.

Wie Kamimura sich in eine grafische Orgie bis an die Grenzen des Surrealen hineinsteigert, könnte man meinen, er habe dieses banale Garn von der gefickten Unschuld tatsächlich ernst genommen. „Shinanogawa“ ist mit seiner Unverblümtheit und Brutalität mit Sicherheit kein Shojo – diese Mangas neigen dazu, solche Dinge nur anzudeuten. Kamimura wagt also den Spagat zwischen den Stilen, und wie er das macht, ist bei aller dramatischen Übertriebenheit der Geschichte bis ins Lächerliche überaus ansehenswert.

Carlsen Manga, 376 S.; € 12,90

8 Responses to “Aus dem Papierkorb (01): ‚Shinanogawa‘”

  1. Susumu says:

    Bin schon sehr auf deinen kürzeren Text gespannt. Der längere erweckt aber etwas den Eindruck, du würdest den Manga eher an ein weibliches Publikum gerichtet ansehen? Halt nicht an kleine Mädchen (Shojos), aber an erwachsenere Frauen. (Josei) Meiner Meinung nach ist SHINANOGAWA aber so Seinen wie nur was.

  2. Stefan says:

    Definitiv. Es ist Seinen bzw. Gekiga (siehe dazu auch einen WELT-Artikel demnächst von mir), aber mit einigen Mitteln des Shojo. Verblüffend, aber nicht ohne Wirkung. Allerdings auch hochpathetisch …

  3. Susumu says:

    Ich hatte mir ja eigentlich schon nach LADY SNOWBLOOD was inhaltlich eher Triviales erwartet. Mal ehrlich: Schlimmer als der „Riesenpenis-Cliffhanger“ am Ende vom ersten SNOWBLOOD war da mMn auch nichts. Aber, auch wenn du ja immer darauf beharrst, dass ein guter Comic zeichnerisch UND inhaltlich bestechen muss, was natürlich auch seine Richtigkeit hat, gibt es finde ich doch auch Abstufungen, auf die weiteren Kamimuras bei Carlsen freue ich mich jedenfalls schon wie ein Schneekönig, und das liegt vor allen an der grafischen Inszenierung.

    „Gekiga“ ist doch ein reiner Genrebegriff (soweit ich verstanden habe in etwa, wenn auch nicht ganz, vergleichbar mit „hard boiled“, oft in Kombination mit Erotik), „Seinen“ ein demographischer? Ergo ist „Seinen“ in dem Fall (und wohl praktisch allen Gekigas) doch auch kein falscher Begriff. Die Mittel des Shojo-Mangas sind mir hier jetzt dennoch nicht klar ersichtlich, Liebersbeziehungen allein könnens ja wohl nicht sein. Kenn mich bei Shojo aber auch praktisch so gut wie garnicht aus. Vielleicht klärt sich das für mich auch nach deinem Welt-Artikel.

  4. Stefan says:

    In dem Welt-Artikel geht es, wenn überhaupt, eher um Gekiga.

    Es sind die grafischen Elemente, des Shojo, die ich meine: „Wenn flirrende Blütenblätter eine frische Liebe symbolisieren oder aufknospende Rosen sexuelles Verlangen, dann ist das dem Leser ohne Umwege verständlich.“ Dieser Expressionismus findet v.a. im Shojo Verwendung, im Shonen/ Seinen findet er kaum bzw. seltener statt.

    Siehe auch hier:

    „Die einzelnen Seiten der Comics sind freier gestaltet als in den Comicmagazinen für die Jungen und für die Erwachsenen und ihr Aufbau trägt zum Teil abstrakte Züge. Die panels gehen in einander über und versuchen mit Hilfe zeichnerischer Feinheiten abstrakte Gefühle darzustellen. Oft wird mit einfachen Symbolen wie Licht, Blumen, Regen, Schnee, Sternen, Weite, Enge usw. gearbeitet. So stellt z.B. Regen Traurigkeit dar, Blumen die Freude und Sterne die Hoffnung einer Person. Einsamkeit wird mit Hilfe von Weite erzeugt. Auch die Mode beeinflußt die Darstellung von Personen. “

    http://www.japanlink.de/mk/mk_manga_shojo2.shtml

    Und ehe du mich drauf festnagelst: Ich sage NICHT, dass „Shinanogawa“ ein Shojo sei!

  5. Susumu says:

    Hätte dich nie darauf festgenagelt. Das war mir schon klar. Der Rest bislang nicht so. Danke für die zusätzliche Erläuterung.

  6. Stefan Pannor » Blog Archive » Die WELT: ‘Wenn das Zeichnen alkoholkrank macht’ says:

    […] Und noch etwas Werbung: einen ebenfalls recht großen Artikel über Mangas abseits der Triefaugen-Klischees hatte ich vor etwas über einem Jahr hier. Ein weiterer aktueller Artikel über alternative Manga findet sich hier. […]

  7. Stefan Pannor » Blog Archive » Aktuelle Comicrezension (134): ‘Shinanogawa’ says:

    […] Den Text für die Leipziger Comic Combo finden Sie hier. Einen Director’s-Cut des Textes dann hier. Hideo Okazaki/ Kazuo Kamimura […]

  8. Stefan Pannor » Blog Archive » Aktuelle Comicrezension (150): ‘Furious Love’ von Kazuo Kamimura says:

    […] Shinanogawa (1) von Kamimura […]