Eben noch in Frankfurt vorgelesen, jetzt schon online – die von mir verfasste Laudatio für Michael Meier, den einstimmig von der Sondermann-Jury (Constanze Döring, Andres Platthaus, Christian Schlüter & ich) gewählten Newcomer des Jahres 2009.

Hier der Originaltext in der unredigierten Manuskriptfassung. Zitate nach Möglichkeit mit Verweis auf die Autorenschaft – danke. 😉

Der Slapstick in der Menschenfabrik
Die Laudatio für den Sondermann-Gewinner 2009

von Stefan Pannor

„Oft bin ich ganz verwirrt.“

Mit diesem Satz von Ludwig Tieck leitet Oskar Panizza seine Erzählung Die Menschenfabrik ein. Der 1890 erstmals erschienene Text ist ein prophetischer Alptraum. Panizza schildert darin die Produktion von ganz und gar maßgeschneiderten Menschen.

Es ist eine der Aufgaben von Kunst, den Betrachter zu verwirren, ihn aus seiner gewohnten Betrachtungsweise heraus zu reissen. In dieser Hinsicht leistet das Medium Comic weiterhin Grundlagenarbeit. Es ist voll mit unfasslichen Bildern, Perspektiven, Szenarien, Figuren. Sprechende Enten und fliegende Menschen – fast nirgendwo müssen wir so viel absurde Dinge für wahr nehmen wie im Comic.

Michael Meiers Comic „Menschenfabrik“ wirkt nun auf den ersten Blick kaum verwirrend. Er ist eine über weite Teile textgetreue Adaption von Panizzas klassischer Erzählung in klassischer Struktur: Bild folgt auf Bild, Sprechblase auf Sprechblase. Was darin geschildert wird, muss aus heutiger Sicht sogar altertümlich wirken. In einem Klotz von Fabrik mit rauchenden Schloten produziert ein Industrieller Menschen. Zahnräder rattern, Schmelzöfen glühen, Fließbänder laufen.

Aber so geht das natürlich nicht. Wir wissen: Menschen kommen nicht vom Fließband, sondern aus der Retorte. Aus der Diskrepanz zwischen unserer heutigen Vorstellungswelt und der 120 Jahre alten Phantasmagorie des österreichischen Schriftstellers entsteht eine Komödie.

Michael Meier steigert diese sogar noch. Sein Direktor der Menschenfabrik ist ein knetgummiartiges Männlein, dessen gewaltige Stirn sich in gigantische Falten zu legen vermag. Sein Besucher, der sich eines Nachts in die Menschenfabrik verirrt und daran irre wird, hat einen wunderbar wilhelminischen Schnurrbart. In einem intellektuellen Slapstick hetzen sie sich durch die Fabrik mit ihren fertigen und halbfertigen Menschen und den Menschenersatzteilen und debattieren dabei über das Wesen des Menschen debattieren.

Meier gelingt das Kunststück, Panizzas Alptraum komisch zu machen, ohne der Geschichte den ihr innewohnenden Schrecken zu rauben. Dazu benutzt er klassische Kodizés des Comics. Bei einer Debatte über den Nutzen des industriellen Idealmenschen zitiert er nacheinander Superman und kommunistische Propagandaplakate. Und wenn der Fabrikdirektor in überzeugtem Zynismus erklärt, seine Menschen seien zum Verkauf da, dann bilden sich vier Fragezeichen des Staunens um ihn herum. So wie einst bei Donald Duck.

Immer wieder entstehen so Brüche zwischen dem Gezeigten und dem Geschilderten, die den Betrachter schließlich doch verwirren. Aber so zynisch das Erzählte auf den ersten Blick auch scheinen mag, steckt doch ein gewisser Optimismus darin. Weil die Geschichte davon erzählt, wie Menschen aus den Öfen heraus kommen statt in sie hinein.

Dafür, dass Michael Meier auf unprätentiöse Art ein sich allmählich erschließendes Meisterwerk der literarischen Adaption geschaffen hat, verleiht die Frankfurter Buchmesse ihm den Nachwuchspreis der Sondermann-Jury 2009.

Dies ist ein vorab vorbereiteter Eintrag. Entsprechende Illustrationen des Textes werde ich nachreichen.

8 Responses to “Frankfurter Buchmesse: Die Laudatio für den Sondermann-Newcomer 2009”

  1. dani+sahne says:

    Jawooool!!! Ganz meiner Meinung!!! Verdient hat er ihn, den Preis!

  2. Oliver L. says:

    Klingt gut. Muss mal sehen, ob ich den Band im Shop noch finde…

  3. Stefan says:

    Ist es auch. Charmanterweise handelt es sich um ein Comicheft, und Michael meier hat mir in Frankfurt bestätigt, dass er diese Formatwahl – hohe Literatur im trivialen Gewand – bewußt getroffen hat.

  4. Oliver L. says:

    Ja, ich bin ja mit Panizza ein wenig vertraut. Das macht mich dann allein schon neugierig. Bin ja noch immer stinkig, dass Festa die Panizzapläne vor ein paar Jahren abschrieb. Aber was soll man machen?

  5. Stefan says:

    Online lesen? Er ist ja lange genug tot. 😉

  6. Oliver L. says:

    Ich verbringe so viel Zeit am Bildschirm, dass ich nicht auch noch Bücher oder Comics daran lesen möchte. Meine Augen sind auch ohnehin nicht die besten… 😉

  7. Stefan Pannor » Blog Archive » Frankfurtter Buchmesse - Rückblicke says:

    […] der Laudatio für den Sondermann (für die Preisträger Michael Meier sich sehr bedankt hat) enthielt diese auch noch einen älteren […]

  8. Stefan Pannor » Blog Archive » Der Rest vorm Fest (21): Das Inferno! says:

    […] Michael Meier: laudatio für den Sondermann 2009 […]