Tanatos, auf den in wenigen Tagen noch einmal zurück zu kommen sein wird, stellt eine der selten gewordenen Formen von Prä-Superhelden-Pulp im europäischen Comic dar (vermutlich auch, weil es aus hiesiger Sicht eines der randständigsten überhaupt nur denkbaren Genres ist). Auf perverse Art faszinierend die Leseerfahrung: wie kann ein Erzähler (bzw. ein Erzählerteam) einen so guten Ansatz nur so grandios versaubeuteln mit einem menschlich wie politisch absolut inakzeptablem, kriegsverharmlosendem Schluß?

Der Text stand natürlich zuallererst bei der Comic Combo Leipzig.

Didier Convard/ Jean-Yves Delitte
Tanatos 1 – Der Sohn des Todes

Heute ist kaum noch bekannt, das Frankreich um 1900 Herkunftsland einer überaus modernen Unterhaltungsliteratur war, die ihrer Zeit weit voraus war, Prinzipien des Pulp vorweg nahm, und deren Inhalte und Strukturen maßgeblich mithalfen, den Boden für die spätere französische Comickultur zu bereiten.

Zu den auch heute noch bekannten Figuren, die damals die unterhaltungsliterarische Szene bevölkerten, zählt der Superverbrecher Fantomas, der seine Verbrechen hauptsächlich in über dreissig wie am Fließband heraus gehauenen Romanen von 1911 bis 1913 erlebte. Die Autoren Souvestre und Allain nahmen mit dessen Typus des soziopathischen Großverbrechers, der sich über sämtliche moralischen Schranken ohne Bedenken hinweg setzt, sinnbildlich das Ende der bürgerlichen Vorkriegsgesellschaft vorweg, wie es dann mit dem Ersten Weltkrieg eintrat.

An diesem Punkt setzt „Tanatos“ ein, dessen Handlung in den Jahren 1913 und 1914 angesiedelt ist. Die Comicreihe ist fraglos eine Hommage an „Fantomas“. Hier wie dort ist es ein kriminelles Genie, eben jener Tanatos, der sich durch Intrigen, Dutzende Masken und fantastische Erfindungen als verderbtes Element tief in die Gesellschaft hinein gefressen hat und unerkannt mit Politikern, Polizisten und Industriellen verkehrt. Convard und Delitte drehen die Schraube dabei ein Stück weiter: Ziel ihres Tanatos ist die Auslösung eines weltweiten Krieges, sowohl aus psychopathischem Sportsgeist wie auch aus pekuniären Interessen – er besitzt selbstverständlich Anteile am Waffengeschäft.

Die Autoren des originalen „Fantomas“ waren vor dem Krieg immer zurückgeschreckt. Ihre Geschichte endet 1913, auch wenn in den Jahren nach dem Krieg noch neue „Fantomas“-Romane erschienen. Deshalb kann man den „Tanatos“ (benannt nach dem griechischen Gott des Todes) interessant finden – er geht den Schritt, den die damaligen Autoren nicht wagten. Vordergründig ist demnach der Plot des Buches recht komplex. Die Erzähler binden unzählige reale historische Ereignisse ein und verweisen neben „Fantomas“ in diversen Zitate und Anspielungen noch auf andere französische Pulp-Klassiker.

Das ist freilich vorhersehbarer als spannend, zumal sich Convard und Delitte bemühen, bis hin zur Flucht des Schurken in allerletzter Sekunde jede Konvention des Genres getreu zu erfüllen. Darum befriedigt es kaum, wenn zum Finale hin Maske um Maske des Superverbrechers fällt und der kriegstreibende Plot in Gang tritt. Es ist zu simpel: natürlich steckt hinter jedem politischen Ereignis jener Jahre, vom Attentat auf Erzherzog Franz Ferdinand bis zu dem auf den bekannten französischen Politiker Jean Jaurès, der Schurke Tanatos, der – und hier werden die Autoren sehr eindeutig – allein verantwortlich für den Ersten Weltkrieg ist. Das ist plumpe Geschichtsklitterung, die nichts mehr von dem genialen Frühwarnsystem jener Romane an sich hat, auf den sich dieser Comic bezieht, und in seiner reißbretthaften Art auch nichts von der wilden Energie der Unterhaltungsliteratur jener Jahre. Dass Convard und Delitte gar nicht verstanden haben, worum es geht, muss leider befürchtet werden. (stefan pannor)

Ehapa Comic Collection, 112 S.; € 29,95

7 Responses to “Aktuelle Comicrezension (141): ‚Tanatos‘”

  1. Susumu says:

    Ich habe diesen Comic zwar noch weder gekauft noch gelesen, bin aber davon ausgegangen, dass der dem Steam Punk Genre zuzuordnen ist. Und einem Vertreter davon vorzuwerfen, Geschichtsklittung zu betreiben find ich ehrlich gestanden seltsam, weil das per se ein ahistorisches Genre ist.

  2. Stefan says:

    Es ist kein Steampunk. (Mit dem Begriff wird derzeit sowieso viel zu leichtfertig um sich geworfen.)

    Alternativweltgeschichten (von denen Steampunk ein Untergenre darstellt) sind zudem nicht a-, sondern kontrahistorisch. „Tanatos“ stellt allerdings keine Alternativweltgeschichte dar, da alle geschilderten politischen Ereignisse und Figuren real sind. Es wird also kein alternativer Zeitverlauf geschildert, sondern lediglich die Erklärung für ein historisches Ereignis ausgetauscht.

  3. Susumu says:

    Aber fliegt er nicht z.B. mit einem total (und bewusst) anachronistischen Gerät herum? Meine sowas gesehen zu haben als ich den Band im Comicshop durchgeblättert habe.

  4. Stefan says:

    Ja, aber das definiert noch keinen Steampunk. Das definiert nur Science Fiction, also das Übergenre von Steampunk und Alternativwelt-Geschichten.

    Und anachronistisch ist es auch nicht, denn das Gerät würde auch in keiner anderen Zeit funktionieren. Zudem beruht Steampunk gerade eben NICHT auf einfachen Anachronismen.

  5. Susumu says:

    Das mag ja stimmen, ich habe das nicht so eng gesehen. Für mich war Steam Punk alles, wo die Zeit der Industrielle Revolution, so Ende 19., Anfang 20. Jahrhundert (oft in einem viktorianischen oder wildwest- Setting) mit technischer Science Fiction verknüpft wird. Und das nicht in einem zeitgenössischen Werk, sondern aus der Perspektive, dass das bereits Vergangenheit ist. Der (schauderhafte) „Wild Wild West“ mit Will Smith wäre für mich auch „Steam Punk“, kann man freilich auch als „Alternativwelt-Szenario“ ansehen, für mich ist das einfach rückwärtsgerichtete Science Fiction.

    Aber nennen wir es halt nicht „Steam Punk“. Mein eigentlicher Punkt war doch, dass eine Geschichte, in der der Held vor Ausbruch des 1. Weltkriegs statt mit einem Doppeldecker (das meinte ich mit anachronistisch) mit einem UFO herumfliegt wohl kaum den ernsthaften Anspruch eines „historischen“ Ansatzes stellt. Dem unsäglichen „Stern von Afrika“ hätte ich ebenso den Vorwurf, eine Geschichtsklitterung zu sein, gemacht. Aber z.B. bei einer Geschichte um „Nazi-Zombies“ würde der freilich abprallen. Die mag in der einen oder anderen Weise geschmacklos sein, sie stellt aber von vorne herein nicht den Anspruch ein gewisses Geschichtsbild zu vermitteln. Und ein Leser muss schon den Eindruck haben, hier Geschichte vermittelt zu bekommen, damit ein „Geschichtsfälschungsversuch“ überhaupt greifen kann.

  6. Stefan Pannor » Blog Archive » War sonst noch was? - Ente in Antik, Vinci, Scalped says:

    […] Convard hat mich ja neulich schon geärgert als Autor von Tanatos. Im Vergleich zu Vinci ist das aber wohl ein Meisterwerk. Der dürftige Plot ist schnell […]

  7. Stefan Pannor » Blog Archive » Der Schwarze Mann says:

    […] in der „Der Schwarze Mann“ erscheint, ist es nicht die erste Hommage dieser Art. Mit „Tanatos“ in der selben Reihe hatten sich Convard und Delitte dem Fantomas-Mythos angenommen – mit […]