Eigentlich müsste man ja den Titel der Serie ändern. Denn spätestens mit diesem Band tritt die „Liga der außergewöhnlichen Gentlemen“ in die Ära der Pulphelden der Neuzeit ein. Mit der viktorianischen Liga, wie sie in den ersten zwei Bänden zu erleben war, ist es ab jetzt vorbei, mit der Gentlemanhaftigkeit ebenso.

Sinnbildlich bekommt das der Leser gleich zu Beginn klargemacht: Kapitän Nemo, eine der Hauptfiguren der vorherigen Bücher, stirbt. Er hinterlässt eine Tochter, die ausgerechnet die finstere Seeräuber-Jenny aus Brechts „Dreigroschenoper“ ist. Abschaum statt Edelmänner: ab hier übernehmen Huren, Schlitzer, ehrlose Diebe und in ihren Mitteln nicht zimperliche Gauner die Handlung, die sich zudem grob an Brechts Couplet zur „Seeräuber-Jenny“ orientiert.

Die Hauptfiguren der vorherigen Bände treten, sofern sie überhaupt noch leben, in den Hintergrund der Handlung und sehen dem ruppigen, blutigen, zynischen Treiben eher hilflos zu. Überhaupt schreibt Moore (einmal mehr und wie so oft seit „Watchmen“) ein hochgradig dysfunktionales Superheldenteam, das mehr mit sich selbst beschäftigt scheint als mit den Vorgängen um sich herum, und das den Vorgängen vor allem nichts entgegenzusetzen hat.

Mit dem Wandel im Tonfall der Serie ändert sich auch deren Konzept. Bildeten die ersten zwei Bände der Liga“ noch lose verknüpfte, zeitlich dicht beieinander liegende Einzelabenteuer, soll die dritte Staffel (die in sich ebenfalls eine Trilogie bildet, heißt, sie soll aus drei Einzelbänden bestehen), das gesamte 20. Jahrhundert und seine Unterhaltungskunst abdecken.

Nicht nur Literatur: dem Wandel der Medien entsprechend sollen ebenso Kino- und Fernsehfiguren auftreten. Eine Herkulesarbeit, denn grade ab 1900 explodierte der Markt für Unterhaltungsstoffe aller Art nahezu durch die diversen neuen Medien sowie die kostengünstiger gewordenen Herstellungs- und Verbreitungsmöglichkeiten.

In Folge ist „1910“ noch dichter mit Zitaten gepackt als bisherige Konvolute der Serie. Folgend dem Wandel in der Erzählweise, den die Literatur in der geschilderten Zeit und danach durchmachte, folgen Moore und O’Neill einem postmodernen Ansatz, in dem das Zitat die Handlung trägt und der Lesegenuss nicht aus dem Erkennen, sondern aus dem Wiedererkennen von Situationen und Figuren kommt.

Das ist demnach nicht nur wegen der abgründigeren, komplexeren und düstereren Stoffe, auf die sich Moore und O’Neill beziehen, eine völlig neue Serie. Wie gesagt, eigentlich müsste man den Titel ändern …

Alan Moore/ Kevin O’Neill: Die Liga der aussergewöhnlichen Gentlemen – 1910
Panini Comics, 80.; €12,95

Verfasst im Herbst letzten Jahres für die Comic Combo Leipzig.

Verwandte Geschichten:

  • Big Numbers #3
  • 4 Responses to “Aktuelle Comicrezension (166): Die Liga der aussergewöhnlichen Gentlemen – 1910”

    1. Baldur Müller-Blättle says:

      Die Seeräuber-Jenny kommt in der Dreigroschenoper eigentlich gar nicht vor, Polly singt nur das Lied der Seeräuber-Jenny (dafür gibt es noch eine Hure namens Jenny, was das ganze noch etwas verwirrender macht). Dieses Lied ist aber kein Couplet.

    2. DMJ says:

      Etwas unerfreulich sind in der deutschen Fassung allerdings die Liedpassagen, aber da mag ich den Übersetzern keinen wirklichen Vorwurf zu machen: Schließlich hat Moore eine deutsche Vorlage (Brecht) frei auf die Verhältnisse seiner Story umgearbeitet, doch wenn man diese wieder ins Deutsche überträgt, kann man nicht zum Original zurückkehren (schließlich hat beispielsweise die Nautilus keine acht Segel), steht aber automatisch in dessen Schatten.

    3. Stefan Pannor » Blog Archive » Der Rest vorm Fest (06): Neonomicon says:

      […] Die Liga der aussergewöhnlichen Gentlemen: Century – 1910 […]

    4. Stefan Pannor » Blog Archive » Der Rest vorm Fest (07): The Unwritten says:

      […] Vielzahl Zitaten zu arbeiten. So lässt sich denn „The Unwritten“, genau wie z.B. Alan Moores „League of extraordinary Gentlemen“ auf einer Vielzahl Ebenen lesen: als Verschwörungs-Thriller, als Dekonstruktion des Potter-Mythos, […]