Es ist nicht gut, auf zu vielen Hochzeiten zu tanzen, jedenfalls nicht in der öffentlichen Wahrnehmung. Das Publikum weiß dann offenbar nicht, in welche Schublade es den Tänzer stecken soll.

Vielleicht ist das der Grund, weshalb Levin Kurio noch nicht die Meriten für seine Verdienste um die deutsche Comiclandschaft erhalten hat, die er verdient.

Levin Kurio steht immer ein wenig außen vor, und das nicht nur, weil sein Verlag, Weissblech Comics, in Raisdorf sitzt, einem Kaff in Schleswig-Holstein, das ohne Google-Maps vermutlich völlig von der Welt vergessen wäre. Wer macht denn schon Comics in der Provinz? Richtige deutsche Comics kommen aus Hamburg oder Berlin, zur Not auch aus Stuttgart oder Köln, und wenn sie mal aus Bielefeld kommen, dann ist das schon ein mittleres Wunder.

Aber Kurios Comics sind holsteinischer Provinz-Provenienz, und sie wären nicht halb so gut, wenn sie woanders her wären. Sicher weiß Kurio das besser als ich, aber ich wage zu behaupten: ohne diese Abgeschnittenheit von den Trends der Comicszene hätte das Talent des Erzählers, sämtliche Genreregeln und vor allem die von Publikum und Fachhandel so beliebten Genregrenzen ignorierend, niemals in der Form aufblühen können. Grade Kurios Frühwerke, veröffentlicht unter dem vielsagenden Titel Koma Comix, kümmern sich einen Scheißdreck um die Erwartungshaltung des Lesers. Und das ist gut so.

Da geht es um das, was einem in der Hölle des Landlebens so bleibt: saufen, kiffen und keine Frauen abkriegen. Die Zeichnungen waren mit „krude“ noch höflich umschrieben, und die Cover mit Bunstiften delirös koloriert. Aber ziemlich oft, wenn auch nicht immer waren diese Geschichten autobiographisch, und mindestens deshalb sind sie erwähnenswert. Während die autobiographischen Comics spätestens seit Crumb und Pekar, und damit seit den Siebzigerjahren, in den Vereinigten Staaten zum etablierten Genre der Comics gehörten, stellten sie in Deutschland in den frühen Neunzigerjahren immer noch ein Novum dar.

Kannte Kurio diese Comics? Seine Episoden gingen jedenfalls in die Vollen. Kurio hatte wenig Hemmungen, seine Obsessionen und Mißgeschicke auszubreiten, sich in mal mehr, mal weniger realen Geschichten als langhaariges Metal-Landei zu inszenieren. Das war in seinen besten Momenten komisch, tragisch, und zum Fremdschämen schön, radikal wie Crumb, und doch tief verwurzelt in der deutschen Gegenwart, so weit weg von Werner, wie man zu der Zeit in Norddeutschland nur sein konnte.

Zwischen seine Erinnerungen an die unsüße Nichtigkeit des Landdaseins streute Kurio krude Fantasien über Aliens und Monster, gerne auch mal solche mit dicken Titten. Was man sich als Teenager eben so ausdenkt. Die Hefte vertickte er dann persönlich in der Umgebung, später über Kiffer- und Comicvertriebe. Insgesamt erschienen 23 Hefte.

Und damit könnte die Geschichte eigentlich erzählt sein. Wie ein immer dicker werdender Junge vom Land den autobiographischen Comic mit nach Deutschland brachte und dafür keine Lorbeeren einheimste. Aber damit hörte es nicht auf.

Nach dem Ende der Koma Comix kamen die Weltbesten Comics. Die waren zwar nicht autobiographisch, trugen dafür aber Titel wie Horror aus der Porno-Gruft und Affengeile Dschungelluder, und es war nie ganz klar, inwieweit weit sie Parodie waren, weit veritable Hommagen an den Comic- und Popkulturtrash der letzten dreissig Jahre oder simples Ausleben der Obsessionen von Kurio. Das war das aufsehenerregende – wie schon in Koma Comix scherte sich Kurio nicht um Erwartungshaltungen möglicher Leser. Die Episoden waren mal brillant, mal unwahrscheinlich flach, gleichermaßen voller großartiger Gags und abgedroschener Pointen.

Zudem ebneten die Weltbesten Comics den Weg für das, was heute wohl das Kerngeschäft von Kurio und Weissblech ist: Horrorgeschichten. Unter dem Hefttitel Horrorschocker erscheint seit 2004 die inzwischen fast langlebigste und umfangreichste Comicreihe Kurios. (Bis dato 21 oder so Hefte, jeweils 32 S. für 3,90 EUR, dazu drei Sonderausgaben.)

Im Vergleich zu Koma Comix sind diese Episoden um Zombies, Vampire, Tentakelmonster und Pharaonenflüche konventionell. Und ein wenig vermisse ich zumindest manchmal die bierselige Unbekümmertheit der frühen Tage in diesen Geschichten, die eben doch vorrangig auf eine klare Pointe und ein wenig gepflegten Grusel hin konzipiert sind, im Gegensatz zu den häufig improvisiert wirkenden und gerade darum so authentisch wirkenden frühen Geschichten.

Aber andererseits muß man eben doch festhalten, dass sich Kurio mit dieser Serie als einer der verlässlichsten Comicerzähler Deutschlands etabliert hat: nahezu alle Geschichten sind von ihm geschrieben und fast ebenso viele von ihm gezeichnet. Und wenn Kurio, um das Heft vollzukriegen, freimütig Literatur und Sagenschatz plündert, dann ist darin eben doch der unbekümmerte Koma-Kurio von früher wieder zu erkennen.

Natürlich hat dieses Prinzip seine Grenzen. Welten des Schreckens heißt Kurios neuestes Produkt (68 S:; 8,50 EUR), eine Science-Fiction- und Fantasy-Variante zu den Horrorschockern soll es sein – ist es aber nicht. Kernstück der ersten Ausgabe ist eine viel zu lange Episode um Kala, die blonde Amazonin, die schon in einigen Ausgaben der Weltbesten Comics auftauchte, die eher belanglose Astronauten-Geschichte „Xydoon spricht“ und schließlich eine Episode um den Haudrauf-Förster Argstein von Josef Rother und Eckart Breitschuh – die wunderbare Serie um Gruselgestalten aus deutschen Wäldern war zuvor viel zu unbeachtet bei der Ehapa Comic Collection erschienen.

Dem Genre nach nur bedingt, inhaltlich kaum lassen sich diese Welten des Schreckens von den Horrorschockern unterscheiden. Stößt hier das „Prinzip Kurio“ an seine Grenzen, mit der unvermeidbaren Redundanz nach zehn Jahren permanenten Abbaus in den Minen des Horrorgenre?

Hier bleibt abzuwarten, was aus beiden Reihen, vor allem aber natürlich was aus Levin Kurio in den nächsten Jahren noch wird.

Zu vermelden ist immerhin eine ebenso erstaunliche wie wunderbare und eben längst überfällige Hommage. Die #15 des Berliner Fanzines Epidermophytie ist vollumfänglich eine Hommage an den frühen Kurio, an Koma Comix, an holsteinisches Landleben. Das Heft (diese Ausgabe: 88 Seiten, 5,00 EUR), sowieso schon seit langem eines der kreativsten und unterhaltsamsten der deutschen Fanszene, enthält neben obskuren Erinnerungen an bizarre Unternehmungen mit Kurio sowie einem langen, bizarren Interview mit dem Verleger und Zeichner auch auch neue autobiographische Koma-Episoden, die alles sind, nur nicht autobiographisch.

Beteiligt sind hier neben den Epi-Machern (nein, sorry, ich verknote mir nicht noch mal die Finger mit dem Schreiben des Titels) immerhin Mawil, Eckart Breitschuh und Schwarwel sowie diverse mehr. Ein wunderbares, überlanges, sehr sehr unterhaltsames Heft, zu dem mir der Allgemeinplatz gestattet sei, das es eine der besten und unverzichtbarsten Independent-Veröffentlichungen des vergangen Jahres ist.

Wer Weissblech-Comics nicht im Shop um die Ecke findet, kann sie z.B. beim Verlag direkt bestellen. Dort bekommt man auch die Epi-Hommage-Ausgabe, die anderenfalls auch direkt bei den Machern erhältlich ist.

3 Responses to “War sonst noch was? – Weissblech (und ein wenig Epidermophytie)”

  1. Stefan Pannor » Blog Archive » Tagesspiegel Online: ‘Zum Fremdschämen schön’ says:

    […] Text ist eine (vollends genehmigte) 1:1-Übernahme dieses Blogeintrages, daher auch nur kurz der Verweis […]

  2. Stefan Pannor » Blog Archive » War sonst noch was? - Pikkolos und so(s) says:

    […] ist ein Bruder im Geiste von Levin Kurio und diese Wikinger-Geschichte ist Trash. Das geht schon beim Vorwort los: “Einer dieser […]

  3. Stefan Pannor » Blog Archive » Unter Indies. Der Gratis-Comic-Tag-Rundown, Teil 2. says:

    […] Über Weissblech und Levin Kurio habe ich doch grade erst alles gesagt. […]