Ein Meisterwerk, eine Leseerfahrung, ein augenöffnendes Buch über ein komplexes Thema? So die Kritiken zur englischsprachigen Ausgabe von „Das NAO in Brown“. Ein Comic über Zwangsstörung – leider nicht halb so gelungen, wie die Kritiken erhoffen lassen.

Glyn Dillon kennt man hierzulande noch am ehesten für seine kurze Mitarbeit (ein Heft) an Neil Gaimans „Sandman“. Das und eine „Hellblazer“-Kurzgeschichte dürften seine einzigen auf deutsch veröffentlichten Arbeiten sein. Im englischen Sprachraum ist der Bruder von Steve Dillon („Preacher“) als Comic- und Animations-Multitalent ungleich bekannter.

Diese Bekanntheit dürfte ihm auch gestattet haben, ein Projekt wie „Das NAO in Brown“ umzusetzen. Ein Buch, das schon durch Format und Umfang Gewichtigkeit ausstrahlt, vom Thema – Zwangsstörung – ganz zu schweigen.

Tatsächlich gibt es einiges, was an diesem Comic beeindruckend ist. Nicht nur Dillons Liebe zum Detail, das wunderschöne Design des Buches, ja insgesamt jeder visuelle und haptische Aspekt (inklusive eines versteckten Gimmicks auf der Innenseite des Schutzumschlags).

Grafisch ist das ganz großartig. Die Erzählung ist größtenteils im herbstlichen London angesiedelt, und das ist bei Dillon wirklich so nass, windig, kalt, dass man das Buch mit einem Regencape lesen möchte.

Was formal bravourös gelingt, mißrät im Inhalt. Der scheitert, ausgerechnet, an seiner Titelfigur. Die, Nao Brown, Halbasiatin, leidet unter einer Zwangsstörung, sich selbst und andere physisch Gewalt antun zu wollen.

Der Comic schildert ihre Bemühungen, durch Meditation dagegen angehen zu wollen, gleichzeitig, wie sie sich in eine gefährlich abusive Beziehung stürzt, allein aufgrund der Tatsache, dass der Mann ihrer Lieblingscomicfigur ähnlich sieht.

Unterbrochen wird die Erzählung von einer sichtlich an Hayao Miyazaki angelehnten Märchenerzählung über einen Krieg und einen unfreiwilligen Soldaten in einem Fantasyreich.

Wieso exakt, klärt das Buch nicht. Die Fantasyerzählung ist ein Fremdkörper im Buch. Die Ebenen berühren sich nicht, kommentieren sich nicht, spiegeln sich nicht. Sie dienen wohl allein der graphischen Spielerei.

Auch Nao selbst bleibt, obwohl Titelfigur, letztlich charakterlich unerforscht. Ihre Zwangsstörung wird angedeutet, nie erklärt – nicht die Bedeutung, nicht die Ursache, nicht die Auswirkung im Inhalt.

Dafür erfahren wir zur Genüge, dass ihr Boss in sie verschossen ist. Wie das Buch überhaupt eher von Männern handelt. Von dem merkwürdigen Leiter ihrer Meditationsgruppe. Vom Soldaten in den Fantasysequenzen der Erzählung. Höhepunkt der Erzählung: Naos Freund kann nach einem Schlaganfall eine Läuterung erfahren, seine Egozentrik und selbstzerstörerischer Alkoholkonsum werden auf sexuelle Gewalt in der Kindheit zurückgeführt.

Damit gibt Dillon ihm, was er Nao nicht gestattet: Motiv, Vergangenheit, Hintergrund. Die hübsche Nao, in ihrem roten Regenmantel, bleibt dagegen Dekoration, Objekt der Begierde. Wäre es ein Film, würde Nao in die Kategorie der „Manic Pixie Dream Girls“ fallen, der ziemlich verrückten elfenhaften Mädchen. Ein Klischee.

Vermutlich wäre das gar nicht so schlimm, wenn „Das NAO in Brown“ eine kleine, schnörkellose Graphic Novel wäre. Umfang, Format, der eigene Anspruch, die Detailverliebtheit – Dillon hat sogar dem fiktiven Merchandise im Buch eine eigene Website gestaltet – allerdings stehen in radikalem Widerspruch zur oberflächlichen Erforschung des Geschehens, der Figuren, der Vermittlung dessen, worum es eigentlich geht.

Das Buch soll ja eben Nao und ihre Zwangsstörung erkunden – die am Schluß des Buches quasi mit einer Handbewegung weggewischt wird, wovon reale Betroffene leider nur träumen können. Stattdessen bleibt Nao, was sie auf dem Cover ist, gesichtslos, blass trotz ihres roten Mantels.

Hier wurde eine Chance vertan. Das macht „Das Nao in Brown“ paradoxerweise, obwohl es wirklich ein hübscher Comic ist, zu einem nicht so guten Comic.

Egmont Graphic Novel, 208 S.; € 22,99

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