Am 7. März starb der Comiczeichner Yoshihiro Tatsumi. Die Comic-Geschichtsschreibung wäre unvollständig ohne ihn. Aus gegebenem Anlass das Vorwort zu seinem Storyband „Existenzen und andere Abgründe“ (Carlsen, 320 Seiten, 19,95 EUR, ISBN 978-3-551-78689-0) von mir.

Die These klingt gewagt: Ohne Yoshihiro Tatsumi sähe die globale Comickultur heute anders aus.

Kann das stimmen? Immerhin geht es um einen Comiczeichner, den bis vor wenigen Jahren im Westen ebenso wie in Japan praktisch niemand kannte. Wie soll ein quasi Unbekannter einen solch großen Einfluss genommen haben?

Andererseits wird spätestens seit der zunehmenden Erschließung des gewaltigen Manga-Erzählpools durch westliche Verlage und Leser in den letzten Jahren klar, wie sehr gerade Tatsumi mit seinen bodenständigen, realistischen und kontemplativen Erzählungen in Japan nicht nur das vorweg nahm, was heute im westlichen Kulturkreis »Graphic Novel« genannt wird, sondern auch dem japanischen Comic selbst entscheidende Impulse gab − hin zu mehr Reife, Bodenständigkeit und Realismus. Ohne Tatsumi gäbe es keinen modernen Manga, dessen erzählerische Kraft längst global strahlt.

In Ermangelung eines besseren Begriffs nannte Tatsumi das, was er dabei schuf, zunächst »Manga ohne Manga«, später dann »Gekiga«. Um sich von dem Klischee zu emanzipieren, Comics seien nur für Kinder, publizierte er ab 1958 unter diesem von ihm kreierten Schlagwort und gründete damit − ohne es zu diesem Zeitpunkt zu ahnen − eine neue Schule japanischer Comicerzähler. Der Begriff ist ein Wortspiel: »Manga« bedeutet »das komische Bild«, Gekiga meint »das ernste Bild«. Und dass es ernst ist, erkennt man auf den ersten Blick. Kaum einmal lächelt eine der Figuren in seinen Geschichten. Häufig blicken sie den Leser direkt an, mit verkniffenem Mund, ein Häufchen unterdrückte Depression.

Für japanische Verhältnisse, in denen Comics in der Regel über hunderte von Seiten konzipiert werden, waren Tatsumis erste Gekiga aus den 1960er-Jahren zu Anfang gerade einmal sechs bis acht, später bis zu vierzig Seiten lang.

Tatsumi hatte zu jener Zeit schon mehr als ein Jahrzehnt in Japans aufblühender Manga-Industrie hinter sich. Er hatte dutzendfach Actionszenarien vor allem aber Kriminalgeschichten entworfen, reißerische Dramolette zwischen zwanzig und hundertzwanzig Seiten Umfang, die er wie am Fließband ausspuckte − auf Grund der schlechten Bezahlung war nur so ein Leben als Zeichner möglich.
Wollte man seine Kurzgeschichten an diesen Massenprodukten messen, handeln sie eigentlich von nichts: Es sind winzige narrative Skizzen über Menschen auf dem Weg zur Arbeit, in U-Bahnen, im Büro, in Kneipen; über Menschen in unerfüllten Liebesbeziehungen. Obwohl sie in einem Magazin für junge Leser veröffentlicht wurden, sind sie von unverhohlener Offenheit. Sie zeigen Sex in all seinen Spielarten, aber ohne jede Schönzeichnung, thematisieren Alkohol, Drogen, Einsamkeit.

Grafisch wirken sie wie mit rohem Strich gezeichnet, häufig auch wie eilig hingeworfen. Starke Linien, wenige Details, sparsame Hintergründe bestimmen die Ausarbeitung. Zum Teil ist das sicher den ökonomischen Notwendigkeiten geschuldet. Denn Tatsumi musste auch diese Episoden schnell und für wenig Geld produzieren; die Honorare waren in experimentellen Bereichen erst recht gering.
Und doch zeigt sich gerade in der scheinbaren Unvollkommenheit Tatsumis Größe als Comicerzähler, der die Fähigkeit zur Reduktion auf das Notwendige beherrscht. Darum beeindruckt nicht nur die psychologische Komponente, wenn er seine Figuren durch bittere Dramen jagt, sondern auch die soziale Genauigkeit, mit der er reale Schauplätze skizziert − Hafengegenden, Seitengassen, drittklassige Wohnräume und billige Sake-Kaschemmen. Mit fast einem halben Jahrhundert Abstand gelesen, sind diese Geschichten seltener Anlass, das zwischen Aufbau und Tradition gefangene Japan der Nachkriegszeit sinnlich erfahrbar zu machen.

In seiner detailgetreuen Schilderung lokaler Milieus erweist sich Tatsumi als geistiger Verwandter Will Eisners. Der US-amerikanische Zeichner hatte ab 1940 in seiner Serie »The Spirit« das urbane Milieu erkundet. Auch formal ähneln seine Arbeiten denen Tatsumis: sechs bis acht Seiten umfassten die Episoden, die in einer Zeitungsbeilage abgedruckt wurden. Wo Eisner allerdings noch auf die ironisch-überzeichnete Figur des Detektivs Denny Colt als »Spirit« zurückgreifen musste, um die Episode sowohl den Lesern als auch dem vertreibenden Syndikat schmackhaft zu machen, verzichtete Tatsumi von Beginn an auf eine wiederkehrende Hauptfigur. Eine vergleichbare Loslösung von Erwartungshaltungen und formalen Zwängen gelang Eisner erst 1978 mit seiner Graphic Novel »Ein Vertrag mit Gott« − zu einem Zeitpunkt zu dem Tatsumi bereits mehr als einhundert seiner kurzen Gekiga veröffentlicht hatte.

Innerhalb der Manga-Historie ist Tatsumi ein Zeichner der zweiten Generation − der ersten, die fast vollständig mit Manga aufgewachsen ist. Geboren 1935 in der Präfektur Osaka, beschreibt er als prägendes Element seiner Kindheit den abrupten Friedensschluss. Die Bombardements, erzählt er später, kamen so plötzlich zum Stillstand, dass nur noch der Gesang der Zikaden zu hören war.
Weit mehr Einfluss auf seine Entwicklung nahm für ihn allerdings das Wiederaufblühen der Kulturindustrie. 1947 hatte der junge Zeichner Osamu Tezuka, nur knapp sieben Jahre älter als Tatsumi, »Die neue Schatzinsel« veröffentlicht, und damit unbewusst den modernen Manga erfunden. Typische japanische Comics hatten bis zu diesem Zeitpunkt vor allem aus kurzen Geschichten bestanden. Dominant war eine dem westlichen Comicstrip ähnelnde Vier-Bild-Erzählung, die in der Regel auf eine simple Pointe hinauslief.

Die aus heutiger Sicht wenig originelle »Neue Schatzinsel« verblüffte damals auf Grund des Umfangs von 120 Seiten sowie der erstmaligen Verwendung kinematographischer Erzähltechniken, einem verblüffenden Spiel mit der Erzählzeit − allein die Öffnungssequenz, in der der Held zum Hafen fährt, erstreckt sich über zwanzig Seiten − und der Wahl extremer Perspektiven.

Tezukas Buch sollte, nicht zuletzt wegen seines gigantischen Verkaufserfolgs, den Manga nachhaltig prägen, ihn aber ebenso für mehr als ein Jahrzehnt auf reine Unterhaltung für Kinder festlegen. Als Tatsumi selbst zunächst erst kurze, ab 1954 auch längere Geschichten zeichnete, geschah das fast selbstverständlich in dem von Tezuka vorgegebenen Muster: einfache, auf Gags und Action getrimmte Geschichten, hergestellt in möglichst hohem Tempo. Tezuka war Vorbild: Er schuf acht bis zehn neue Bände pro Jahr.

Schnell zeigten sich Tatsumi die Grenzen seines Daseins als Mangaka auf. Der japanische Mangamarkt war damals vorrangig lokal aufgestellt, Bücher wurden weniger zum Verkauf als zum Verleih produziert. Leihbüchereien, in denen man die Bände für wenige Yen lesen konnte, bildeten das Verteilersystem. Die Gewinnspannen waren gering, die Bücher mussten möglichst kostengünstig produziert werden. Für seinen ersten Manga in Buchlänge sollte Tatsumi 12.000 Yen Honorar erhalten, ein japanischer Berufseinsteiger der untersten Gehaltsklasse verdiente 8.000 Yen monatlich. Später versuchte der Verleger noch, Tatsumi um ein Drittel dieses Betrags zu prellen.

Tatsumis wöchentliches Pensum betrug in der Regel zwanzig Seiten. Den Manga »Black Blizzard« mit einem Umfang von 120 Seiten zeichnete er im Jahr 1956 sogar in 21 Tagen. Die Geschichte zweier aneinander gefesselten Männer auf der Flucht vor der Polizei, nimmt auf verblüffende Weise das Thema des 1958 entstandenen Hollywoodfilms »Flucht in Ketten« voraus.

Ansonsten verlief die Fresskette eher andersherum: Weil nicht nur Tatsumi, sondern auch seine Kollegen unter permanentem Lieferdruck standen, kopierten sie aus den Inhalten aktueller Filme. Als Vorlagen dienten Werke des Regisseurs Alfred Hitchcock sowie Filme der französischen Nouvelle Vague, aber auch einheimische Streifen, Krimis, Romanzen und Dramen beflügelten die Inspiration der Zeichner.
Der Lohn für die Mühe war gering. In seiner Autobiografie schildert Tatsumi, wie die Verlage aus Furcht vor höheren Honorarforderungen die Auflagenzahlen seiner Werke vor ihm geheim hielten. Als bei einer Anti-Manga-Pressekampagne einer von Tatsumis Kollegen namentlich ins Visier der Zeitungen geriet, fand er über Monate keine Auftraggeber. Und die Verlage griffen zu noch drastischeren Maßnahmen: Um die Zeichner anzutreiben und besser kontrollieren zu können, quartierten sie ihre jungen Talente in eigens angemieteten Wohnhäusern ein.

Und dennoch reifte Tatsumi in dieser Zeit heran − in persönlicher wie auch künstlerischer Hinsicht. In der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre geriet er in das Umfeld von Zeichnern und Verlegern, die von den US-Krimi-Pulps beeinflusst waren. Besonders der Krimiautor Mickey Spillane wurde mit seinen Hard-boiled-Romanen zum indirekten Vorbild für eine ganze Reihe von Zeichnern, die es sich zum Ziel setzten, Geschichten aus ungewöhnlichen Perspektiven zu erzählen.

Tatsumi insbesondere experimentierte mit der Erzählzeit. Die Ereignisse in »Black Blizzard« spielen sich innerhalb von weniger als zwölf Stunden ab; Erzähl- und Lesezeit sollten so deckungsgleich wie möglich sein.

In diesem Umfeld unterbezahlter Kreativität wurden erstmals im japanischen Comic realistische Stoffe entwickelt. Manga, der kein Manga ist, Manga ohne Manga, schließlich »Gekiga« als eigenständiger Begriff ist Ausdruck dieses Reifeprozesses. Dabei ist Gekiga weniger ein Genre als eine Perspektive. Unter der Idee, möglichst real und ernsthaft zu erzählen, finden im Gekiga neben Krimi- und Gegenwartsthemen auch historische Stoffe Platz. Spätestens seit auch Osamu Tezuka in den 1960er-Jahren Gekiga produzierte, läutete der von Tatsumi erfundene Begriff das ein, was unter Manga-Historikern heute das »Goldene Zeitalter« des japanischen Comic genannt wird. Klassiker wie Tezukas »Adolf«, Sanpei Shiratos »Kamui« und Goskei Kojimas »Lone Wolf & Cub« kennzeichnen diese Epoche.

Zu dem Zeitpunkt hatte Tatsumi sich bereits weiterentwickelt – und möglicherweise war es das, was seinen längerfristigen Ruhm verhinderte. Im Gegensatz zu einem Künstler wie Will Eisner, der sich stets auch als eigene Marke produzierte, stand für Tatsumi der Gekiga, der Comic an sich im Vordergrund − und das hatte Folgen: Eine Vielzahl von Klassikern des Manga wären ohne seine Vorarbeit nicht denkbar; die japanischen Gekigaka nahmen mit ihrer Arbeit um Jahre und Jahrzehnte das vorweg, was sich später im Westen als »Graphic Novel« entwickeln sollte; die von ihm kreierte Schule begann global Wellen zu schlagen und beeinflusste Künstler wie Frank Miller.
Während all dieser von ihm angestoßenen Entwicklungen produzierte Tatsumi stur weiterhin seine Kurzdramen, die zumeist in Magazinen mit geringer Auflage erscheinen. In Publikationen wie dem legendären »Garo«, das in den 1970er-Jahren zu einem Sammelbecken hochexperimenteller Künstler wurde, die stilistisch wie inhaltlich weit hinter sich ließen, was auf dem japanischen Markt als Manga galt und in dessen inoffzieller Nachfolgerpublikation »AX«, zu dessen regelmäßigen Kontributoren der inzwischen beinahe 80-jährige Zeichner und Autor heute noch zählt.

Tatsumis kurze Episoden sind die reine Form des modernen Comic. Sie verzichten auf erzählerische wie auf graphische Schnörkel, auf Serienfiguren, bauchnabelhafte Selbstinszenierung (auch wenn sich immer wieder typische Selbstporträts in den Geschichten finden, erkennbar an der markanten Haartolle und der Stupsnase im breiten Gesicht) und nicht zuletzt auf eine allein dem Ziel, der Pointe dienenden Dramaturgie. Viele der Episoden stehen dem Journalismus näher als der reinen Belletristik, indem sie trotz aller fiktiven Elemente Gegenwart rekonstruieren. Es ist kaum fassbar, dass solch moderne Comics, wie es sie im Westen erst seit knapp zwei Jahrzehnten gibt, vor einem halben Jahrhundert bereits in Japan entstanden sind. Es gilt, mit Yoshihiro Tatsumi einen Vorreiter der graphischen Literatur zu entdecken und wiederzuentdecken, und das schleunigst.

Comments are closed.