„Unsere Heimat“ ist das Buch zum gleichnamigen Trickfilm des Leipziger Comiczeichners Schwarwel. Es ist mehr als das: ein Almanach verschiedener Autoren zur Wende, viele davon Zeitzeugen. Es ist weniger als das: eine vorhersehbare Geschichtslektion. Es kommt, vor allem, zur falschen Zeit.

Die Erinnerung ist vergiftet.

Das war nicht abzusehen, als Schwarwel 2013 mit den Arbeiten am Trickfilm begann, der diesem Buch zugrunde liegt. Ein Erinnerungsfilm über die Tage im Herbst ’89 vor allem in Leipzig, auf und um den Leipziger Ring herum, die dortigen Montagsdemonstrationen, die als Kern der friedlichen Revolution in der DDR gelten.

Aber weil seit 2014 bizarre querfrontlerische Montagsmahnwachenveranstalter, seit 2015 stark rechtslastige und rassistische Demonstrationsveranstalter unter dem Namen LEGIDA genau an jene Tradition des friedlichen Umbruchs anzuknüpfen versuchen (nicht selten mit Gewalt), lässt sich dieses Buch kaum noch unbefangen lesen.

Die Andockversuche jener fragwürdigen Gruppierungen an Begriffe und Orte der Wende schwingen dieser Tage immer mit, wenn vom Herbst ’89 die Rede ist. Sie verändern wohl auch die Art, wie von der Wende in Leipzig geredet wird.

Dieses Buch kann nichts dafür. Es kann auch nichts dagegen.

Wenn bisher in Leipzig von ihr die Rede war, schwang da meist etwas heimeliges mit. Der Leipziger war (zurecht) stolz auf sein historisches Ereignis, wie andere Menschen in anderen Städten stolz auf historische Bauwerke und Personen sind.

Rechtsextreme Gruppierungen wie LEGIDA erhöhen nicht zuletzt deshalb das historische Ereignis zur Monstranz, die vor sich her getragen jeden antidemokratischen und ausländerfeindlichen Ausbruch rechtfertigen soll.

Das Buch, wie es sich jetzt darstellt, ist viel zu wenig Gegengift gegen diese Vergiftung der historischen Realität.

Zwar greift es viele Themen und Bildelemente des gleichnamigen Kurzfilms auf (den man nicht gesehen haben muss, um das Buch zu verstehen) und vertieft sie durch Aufsätze zu Themen wie Alltag, Kirche, Widerstand in der DDR. Durch singuläre Erinnerungen und historische Analysen. Neues ist aus dem Buch freilich nicht zu erfahren: die Geschichte wird ein wenig so erzählt und zusammengefasst, wie der Onkel am Kaffeetisch seine Lieblingsgeschichte immer wieder hervorkramt.

Es schwingt in jener Wende-Heimeligkeit, womöglich Betulichkeit, die eben noch vor gar nicht langer Zeit typisch für das Wende-Gespräch war. Typisch freilich auch für Filme und Dokumentationen zum Thema.

Die Autoren halten an den Fakten fest, an der Heldenhaftigkeit des Umbruchs. Individualität, Subjektivität findet nur am Rand statt. Mehr Subjektivität hätte mit Sicherheit zu Brüchen, Widersprüchen, Reibungen zwischen den einzelnen Texten geführt. Aber wäre nicht grade das spannend gewesen?

Historie ist immer brüchig, bis zu einem gewissen Grad Konsens individueller Perspektiven. Wir müssen uns das vor Augen führen, wenn rechtsaußen stehende Demonstranten die Historie vereinnahmen, verklären und zu vereinheitlichen suchen, wenn sie Menschen aufteilen in „Volk“ und „Volksschädling“, wie es spätestens seit Januar 2015 auf Leipzigs Straßen regelmäßig geschieht.

Dass „Unsere Heimat“ nicht auf diese Fehlentwicklung eingeht, dafür kann es wie gesagt nichts. Mit Sicherheit wird man es in ein paar Jahren wieder unbefangen lesen können. Aber jetzt hätte es ein anderes, kratzigeres Buch gebraucht.

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84 Seiten, A4, Hardcover, vollfarbig
Erstauflage: 500 Stück
ISBN: 978-3-9815274-6-9
VK 19,90 EUR
Glücklicher Montag 2014

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Aktueller Termin:

“1989 – Unsere Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer – Der Almanach zur Friedlichen Revolution”
Buchvorstellung mit Filmvorführung und Podiumsgespräch mit den Autoren Prof. Dr. Rainer Eckert, Dr. André Herz, Tobias Prüwer, Rolf Sprink, Bernd Stracke, Cosima Stracke-Nawka
Moderation: Schwarwel

Leipziger Buchmesse 2015
Do 12. März 2015, 17 – 18:30 Uhr
Zeitgeschichtliches Forum Leipzig

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