Verfasst für die Frankfurter Rundschau. Hier im Blog das Originalmanuskript. Der veröffentlichte Text steht hier.

Perry Rhodans Großvater

„Der Luftpirat und sein lenkbares Luftschiff“: Die allererste Space-Opera der Welt erschien in Berlin. Und zwar 1908.

von Stefan Pannor

Sanft ist die Landung auf dem Jupiter: das Klima ist angenehm, das Meer ruhig, auf dem das Weltraumschiff „Meteor“ niedergeht. Nur die Luft ist ein wenig dichter auf der Erde. Da müsse man sich beim Atmen etwas mehr anstrengen, empfiehlt Kapitän Mors seiner Besatzung.

Kapitän Mors, LuftpiratDas ist natürlich Blödsinn. Allerdings epochemachender Blödsinn. Denn Kapitän Mors war Held der Groschenheft-Serie „Der Luftpirat“, die (vermutlich) ab 1908 in einem namenlosen Berliner Kleinverlag erschien. Die kleinformatigen Hefte, 32 Seiten dick, mit schrillem Cover und zehn Pfennig teuer, waren die erste Space Opera der Welt. Alles, was danach kam, von „Alien“ bis „Avatar“, von „Star Wars“ bis „Perry Rhodan“, hat hier seinen Anfang.

165 Hefte des „Luftpiraten“ erschienen vor dem Ersten Weltkrieg. In denen stellt sich der geheimnisvolle Kapitän Mors mit Maske und Walter-Ulbricht-Bärtchen samt seinem Wunderfahrzeug „Meteor“ auf die Seite der Unterdrückten und Entehrten. Mehr noch aber treibt es ihn in den Weltraum hinaus. Um den deutschen Lesern pflichtschuldig mitteilen zu können: das All ist bevölkert, ziemlich dicht sogar. Wohin auch immer Kapitän Mors geht, die Außerirdischen sind schon zur Stelle. Meistens sind sie nicht nett.

Natürlich gab es vorher bereits Weltraumabenteuer. 1865 hatte Jules Verne drei Männer auf den Mond geschossen in „Von der Erde zum Mond“. 1898 kamen die Marsianer recht ruppig zur Erde in H.G. Wells „Krieg der Welten“. Bereits ein Jahr zuvor hatte in Deutschland Kurd Laßwitz seinen Marsroman „Auf zwei Planeten“ publiziert, ebenfalls mit einer Invasion der Außerirdischen. Ferne Vorläufer waren u.a. Cyrano de Bergeracs satirisch-utopische „Mondstaaten und Sonnenreiche“ (ab 1550). Darin fliegt der Held mittels eines Feuerwerks ins All.

Kapitän Mors, LuftpiratAber etwas wie den „Luftpiraten“ hatte das Publikum noch nicht gelesen. Monarchische Reiche auf dem Mond, kriegerische Zivilisationen auf dem Mars, Verfolgungsjagden im All, Abstürze auf Kometen, auf denen Saurier leben. Mit physikalischen Realitäten gab man sich dabei nicht ab. Die Flüge zu anderen Planeten dauern in der Regel nur wenige Tage. Von der sachlichen Nüchternheit eines Jules Verne war so wenig zu spüren wie von der intellektuellen Kühlheit eines Kurd Laßwitz, der seine Aliens nach Kantschen Prinzipien formte und lange philosophische Dialoge bevorzugte.

Mit derlei gab sich „Der Luftpirat“ nicht ab. Die Sätze waren kurz, die Worte einfach, die Figuren klar nach Gut und Böse getrennt (und natürlich nach Männlein und Weiblein). Kapitän Mors ist nicht nur unbesiegbarer Kämpfer (er erlegt einen Dinosaurier mit dem Taschenmesser), sondern von ihm geht auch „ein eigentümlicher Zauber aus“, dem „alle Frauen- und Mädchenherzen erlagen“. Sein Herz aber gehört der schönen Nelly, Tochter seines zur Strecke gebrachten Erzfeindes, die selbst im Raumschiff brav am Herd und das Essen für die Besatzung zubereitet, letztere größtenteils markant abergläubische Inder.

Trivial war das, aus heutiger Sicht bis zur Karikatur überzeichnet. Aber auch bunt und unbekümmert, rasant und farbenfroh. Beherzt stellte sich der Titelheld, bewaffnet mit „Elektropistole“ – einem fernen literarischen Vorläufer von Blaster und Lichtschwert – und Degen allem möglichen außerirdischen Kroppzeug entgegen. „Laßt die Himmelsräume sein, auf den Sternen und Planeten ist nichts zu holen. Da ist alles tot und starr, so habe ich es wenigstens in der Schule gelernt.“, wirft ein Ire dem Kapitän entgegen, den der aus Seenot gerettet hat. Die Antwort ist kurz: „’Sie irren sich‘, erwiderte Kapitän Mors kalt.“

Nie zuvor in der Literatur war der Weltraum so lebendig. Nach dem Verschwinden der letzten weißen Flecken auf der Landkarte um 1900 herum war die Unterhaltungsliteratur, die häufig von diesen Schauplätzen lebte, gezwungen, auf den Weltraum als Handlungsort auszuweichen. „Der Luftpirat“ machte als erster umfassenden Gebrauch von dessen im Wortsinn unendlichen Möglichkeiten. Die Groschenhefte hetzten von einem abstrusen Szenario zum nächsten und schufen damit, ganz nebenbei, die Inventarkiste der Space Opera..

Kapitän Mors, LuftpiratObwohl die Serie ein Erfolg war im heißumkämpften Groschenheft-Markt der letzten Kaiser-Jahre (bis zu einhundert verschiedene Serien erschienen in dieser Zeit), existieren heute nur noch wenige Ausgaben. In Bibliotheken fanden sie nie Eingang. Literarische Gralshüter führten bereits bei Erscheinen Kampf gegen die Billiglektüre. Ungezählte Hefte wurden in großflächigen Aktionen gegen „Schund und Schmutz“ vernichtet. Was danach in Privatbesitz verblieb, verbrannte größtenteils im Zweiten Weltkrieg.

Deshalb gibt es von manchen Ausgaben gerade mal ein Stück, von zweien sogar nur noch Fragmente. Auch Unterlagen des Verlages existieren nicht mehr. Das stellt die bibliographische Forschung auf tönerne Füße. Wer die Hefte geschrieben hat, ob es ein, zwei oder mehr Autoren waren, läßt sich nicht mehr rekonstruieren. Selbst das Erscheinungsdatum des ersten Heftes kann nur geschätzt werden. Klar ist, es muss nach 1905 gewesen sein. Denn in der Nummer 1, „Der Beherrscher der Lüfte“, stürzt sich Kapitän Mors in den Matrosenaufstand von Odessa (den später auch Sergej Eisenstein in seinem Film „Panzerkreuzer Potjemkin“ verarbeitete). 1916 wurde die Serie von der Militärzensur verboten. Hintergrund war der allgemeine Papiermangel während des Krieges. Ob die Serie da überhaupt noch erschien, ist ungewiss.

Im Bestand faktisch ausgelöscht, geriet die Serie in Vergessenheit. Ein Auswahlband mit dem Nachdruck einiger Abenteuer war bis vor kurzem die einzige Möglichkeit, überhaupt etwas aus erster Hand über sie zu erfahren.

Mittlerweile druckt die Science-Fiction-Autorin Marianne Ehrig die Serie im Eigenverlag nach. Als vermutlich Einzige besitzt sie eine nahezu vollständige Sammlung des „Luftpiraten“. Als Book on Demand erscheinen monatlich fünf neue Hefte in originalgetreuer Anmutung, inklusive der schundig-schrillen Cover mit den reißerisch-naiven Untertiteln. Für sechs Euro pro gedrucktem Heft ist es seit einem Jahrhundert die erste Chance, den Ursprung eines mittlerweile weltweit verbreiteten Genres zu erleben.

Heinz J. Galle (Hrsg.): Der Luftpirat und sein lenkbares Luftschiff (Auswahlband). 276 S. Hardcover, € 30,00, ISBN 978-3940679284

Der Luftpirat – originalgetreuer Nachdruck der Heftserie, 32 Seiten in Fraktur, 6,00 € pro Heft, zu bestellen bei
Ralph Ehrig, Tempelhofer Damm 220, 12099 Berlin, reaxolotl@yahoo.de. Mehr Informationen unter www.villa-galactica.de.

Comments are closed.