Zwei zwischen Sozio- und Historienkrimi stehende Graphic Novels erkunden Deutschlands verbrecherische Vergangenheit. Nein, keine Nazis. Keine Sorge. Nur Giftmörder und Kannibalen.

„Roman über ein Verbrechen“ nannten Maj Sjöwall und Per Wahlöö in den Sechzigerjahren ihre Dekalogie von Krimis um den Kriminalkommissar Beck. Das Verbrechen, um das es ging, war die Ausbeutung der Gesellschaft und ihr damit verbundener Niedergang, sinnbildlich dargestellt durch die immer komplexer und grimmiger werdenden Fälle des Kommissar Beck.

In eine ähnliche Kerbe schlagen mindestens zwei irgendwo zwischen Sozio- und Historienkrimi stehenden Graphic Novels von Peer Meter, die sich beide mit klassischen Mordfällen beschäftigen, aber ihr besonderes Augenmerk auf das Milieu von Täter und Mordermittlung legen und von gesellschaftlichem Verfall berichten.

„Gift“, das vorgibt, von der Bremer Giftmörderin Gesche Gottfried zu handeln, die 1831 hingerichtet wurde, ist dabei das offenbarere Beispiel für die eigentlichen Intentionen Meters. Der Titel mindestens doppeldeutig: gemeint ist sowohl das Gift der Gesche Gottfried als auch die vergiftete Stimmung in der Stadt nach Bekanntwerden der Taten, irgendwo zwischen Angst und Pogrommlaune.

Hauptfigur ist demnach weniger die Gottfried, die als schwarze Witwe auf dem Cover prangt, im Buch selbst aber kaum vorkommt, als vielmehr Bremen, insbesondere seine Bürgerschaft, und die einsetzenden Verdrängungs- und Verabreitungsmechanismen.

Lässt man einmal diese arg offenbar aus den Poren des Werkes knietschende Intention beiseite, bleibt „Gift“ dennoch eine überaus stabile Geschichte, die durch die sauberen, dezent in Lokalkolorit gefärbten Dialoge besticht, vor allem aber durch Barbara Yelins schattige, hochemotionale Zeichnungen sowie die ruhige, raumgreifende Struktur der Geschichte, die, ihren Erzählrythmus sukzessive steigernd, auf eine alptraumartige Hinrichtungssequenz zuläuft, die von einer überaus seltenen emotionalen Schlagkraft ist.

Deutlich hintergründiger ist „Haarmann“. Eigentlich ein Remake (Meter hat sich bereits in den Achtzigerjahren mit dem Stoff des Massenmörders Haarmann beschäftigt, der das Fleisch seiner Opfer auf dem Schwarzmarkt verkaufte), steht es, mehr noch als „Gift“ auf dem Gipfelpunkt der aktuellen einheimischen Comicproduktion.

Hat Isabel Kreitz in der Vergangenheit einige faszinierend eindeutige Horror-Comics veröffentlicht (maßgeblich: der „Ralf“-Vierteiler bei Zwerchfell), ist sie in den letzten Jahren mehr und mehr zur Meisterin des Indirekten geworden.

Wie kein anderer Comiczeichner derzeit schafft sie es, die Emotionen ihrer Figuren allein durch Gestik und Mimik auszudrücken. Das gestattet schlanke, effektive Skripte und ein Augenmerk auf das soziale Umfeld, ohne die eigentliche Geschichte auszubremsen.

Und so ist, genau wie „Gift“, „Haarmann“ eigentlich das Portrait einer Stadt, allerdings noch genauer, noch bitterer als Yelins Graphic Novel.

Bestürzend die Bilder der komplett aus dem Ruder geratenen verarmten Unterschicht Deutschlands in den Zwanzigerjahren, in deren Umfeld erst ein Fall wie Haarmann und sein Menschenfleischhandel möglich war; der verzweifelte Versuch von Polizei und Justiz, genau diesen Umstand möglichst aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit herauszuhalten; nicht zuletzt der sittliche Verfall nicht nur des Täters, sondern, wortwörtlich aus der Not geboren, auch seiner Kunden und Kompagnons.

„Haarmann“ ist von einer deskriptiven Genauigkeit, die im Comic ihresgleichen sucht (und allenfalls in den anderen Comics von Kreitz zu finden ist), weitab von der sonst üblichen boulevardesken Ausschlachtung des Themas Massenmörder in anderen Medien. (Auch wenn der auf dem Buch pappende Sticker „Ein deutscher Serienmörder“ unnütz marktschreierisch ist und viel zu sehr auf genau diesen Boulevard schielt.)

Es ist, mehr noch als „Gift“, ein hervorragender Thriller, Beleg absoluter künstlerischer Meisterschaft.

  • Gift: Reprodukt, 200 S.; € 20,00
  • Haarmann: Carlsen Comics, 180 S.; € 19,90
  • Verfasst für die Leipziger Comic Combo im Juni 2011.

    2 Responses to “Aktuelle Comicrezension (180) ‚Gift’/ ‚Haarmann‘”

    1. Stefan Pannor » Blog Archive » Der Rest vorm Fest (20): 2 x Isabel Kreitz says:

      […] Gift/ Haarmann […]

    2. Stefan Pannor » Blog Archive » Karl Denke: spannend. Vasmers Bruder: nicht so. says:

      […] Gift/ Haarmann […]