Perry Rhodan gibt es nicht. Jedenfalls nicht den, den einen. Der Perry Rhodan, der seit mehr als fünfzig Jahren am Kiosk ausliegt, ist eine Kunstfigur, der von den Autoren mit ganz verschiedenen Inhalten gefüllt wird.

Nachtreten muss schön sein. Harald Schmidt, anlässlich des Todes des „Jerry Cotton“-Ur-Autors Höber, stellte fest, dass sich sein Schulhof in Cotton- und Rhodan-Leser geteilt habe. Er las Cotton. Und resümierte: „Aus den Cotton-Leuten ist was geworden, die Rhodan-Jünger haben Maschinenbau und Elektrotechnik studiert.“

Harald Schmidt ist Jahrgang 1957, seine Cotton-Zeit (und die seiner Mitschüler) dürfte also um 1970 herum gelegen haben. Nur unwesentlich jünger ist Denis Scheck (*1964), der 2011 gestand: „Perry Rhodan ist stärker für meine literarische Sozialisation verantwortlich als alles andere.“ Scheck hat fraglos weder Maschinenbau noch Elektrotechnik studiert. Anders als Schmidt hat er allerdings eine gutlaufende Sendung im Fernsehen.

Doch, Nachtreten ist manchmal schön.

Was „Perry Rhodan“ aus uns gemacht hat, was wir aus „Perry Rhodan“ gemacht haben und was „Perry Rhodan“ über Deutschland aussagt, ist dennoch eine Frage, der sich immer wieder nachzugehen lohnt. Entgegen allgemeiner Annahmen (Dietmar Dath: „Perry-Rhodan-Leser wissen sowieso, wie es weitergeht“) ist die Serie natürlich kein Zukunftskonglomerat. Und wenn, leben wir in dieser Zukunft. Die Heftserie erschien ab 1961, als in Ostberlin grade der Bau der Mauer geplant wurde. Die Handlung der Heftserie setzt 1971 ein. Da war der Autor dieser Zeilen noch nicht einmal geboren. In seiner ebenso alternativen wie vergangenen futura obscura hat Perry Rhodan da schon den Krieg auf der Erde abgeschafft. In seiner eigenen Kindheit musste der Autor dieser Zeilen mit einem permanent drohenden Atomkrieg aufwachsen.

Welche dieser Realitäten ist wichtiger? Findige Fans führen längst ihre Kalender danach, was Rhodan in der anderen, in seiner Zeitlinie gestern, heute, morgen getan hat, haben wird. 2015 war dort kein besonders spannendes Jahr. Wohl aber 2018, als Rhodan beschliesst, sein erstes Kind zu zeugen, mit einer Frau, die er erst zwei Jahre später heiraten wird.

In unserer Realität wurde diese Geschichte 1962 geschrieben, und war da durchaus ein heisses Eisen. Wilde Ehe galt als Vorstufe zur Kuppelei, unverheiratete Paare bekamen schwieriger eine Wohnung. Gleichwohl war diese Form des Zusammenlebens Alltag: der Krieg hatte viele Witwen hinterlassen und Frauen, deren Männer hinter der Front als verschollen galten. Neue Beziehungsformen etablierten sich, wie das immer der Fall ist, an der Realität orientiert und nicht an einer bürgerlichen Moral.

Im Grunde seines Herzens war dieser Rhodan selbst ein Kriegsheimkehrer. Scheer und Darlton, die ihn sich in einer überstürzten Aktion auszudenken hatten (Clark Darlton: „(…) geht dort in Klausur und bringt uns in zwei oder drei Tagen die Gesamtkonzeption der Serie (…)“) hatten beide den Krieg erlebt, genau wie der eilig dazugestoßene Johnny Bruck als Illustrator der Hefte. Vor allem der federführende Scheer, der andere Autoren an seiner Serie schon mal schasste, wenn sie ihm die Figuren zu nachgiebig beschreiben, lebt in den früßen Heften einen ungehemmten Revanchismus aus, der sich selbst in den später folgenden, oft stark bearbeiteten Buchausgaben nur mühsam kaschieren lässt. Sein Rhodan ist eine unhinterfragte, fehlerfreie Führerfigur, allgegenwärtig das Hackenzusammenschlagen und das „Sir“, das ihm entgegengebrüllt wird, mit Wahlergebnissen einer scheinbaren Demokratie (alle politischen Gegner sind immer auch Schurken), die selbst in der DDR als unrealistisch hoch empfunden worden wären, Anführer einer selbsternannten „Dritten Macht“, später eines Imperiums.

Es lohnt, Victor Klemperers „LTI“, dessen Analyse der Sprache des Dritten Reichs, und jene frühen „Rhodan“-Hefte nebeneinander zu lesen, um eine stilistisch wie motivisch noch von den Jahren des deutschen Faschismus durchseuchte Erzählung zu finden. Vor allem Scheer, dessen Raumschiffe eigentlich U-Boote im Weltraum sind, schreibt den von Klemperer detailiert herausgearbeiteten Jargon des verlorenenen Kriegs, als müsste dieser auf den wöchentlich 64 Seiten für sechzig Pfennige doch noch gewonnen werden. Das waren die Hefte, die Robert Jungk in einer „Monitor“-Sendung zum Schlagwort vom „Hitler des Weltraumzeitalters“ führten. Das waren die Hefte, die Harald Schmidts Mitschüler gelesen hatten. Vielleicht blieb jemand, der das las, wirklich nur der Ausweg des Maschinenbaus. Jedoch: das waren nicht die Hefte von Denis Scheck.

Denn hier klafft die Lücke. Scheer gab, gesundheitsbedingt, die Serie 1975 ab, in die Hände von Willi Voltz, der als erstes das Imperium auf den Müllhaufen warf, dann die militärischen Ränge und danach überhaupt jede Form von Herrschaftskonflikt. Sein Rhodan, der nicht erobern und verteidigen, sondern verstehen will, ist ein essentiell anderer als der von Scheer. Voltz‘ Deutschland war ein essentiell anderes als das von Scheer. Adenauer holte die deutschen Soldaten aus dem Osten heim. Willy Brandt sorgte für Aussöhnung mit dem Osten.

„Perry Rhodan“, offensichtlich, ist das, was man draus macht. Keine feste Figur, kein Kirk, kein Picard, ja nicht einmal ein Doctor Who (obwohl der ihm in Wandlungsfähigkeit fast nahe kommt). Es gibt tatsächlich nur einen Jerry Cotton, das merkt der Leser schon an der traditionell armen, innenlebenlosen Beschreibung der Figur in den Heften. Ein Pappkamerad, der Kugeln aus Gangsterpistolen auffängt. Das macht die Lektüre bequem. Rhodan, die Gestalt von über fünfzig Autoren, ist dagegen Spiegelbild dieser Autoren und ihrer Zeit, mal Kriegshetzer und Volksvernichter, mal Friedensengel und Trivialphilosoph. Literarisch würde man sagen; eine gebrochene Figur, womöglich eine schizophrene. Fast jede Woche ein bißchen anders. Keinesfalls eine, die sich in eine Schublade pressen lässt. „Rhodan“, jetzt, mit über fünfzig Jahren Laufzeit, ist eine äußerst unbequeme literarische Figur, die längst auch die Leserschaft spaltet: in Vertreter des reinen Rhodanismus der Scheer-Ära, der Voltz-Jahre, der Nachfolger Vlcek, Ziegler, Feldhoff.

Und er ist das, was die Leser aus ihm machen, mit der wöchentlichen Abstimmung am Kiosk. Dass seine Leserschaft inzwischen so rapide überaltert ist, dass „Rhodan“ kaum noch auf Schulhöfen gelesen wird, entspricht ebenfalls der bundesrepublikanischen Realität, der Vergreisung der Gesellschaft.

Es ist angesichts dessen kein Wunder, dass aus Denis Scheck, der „Rhodan“ las, Literaturkritiker wurde. „Rhodan“-Leser, ehemalige und gegenwärtige, sind in den Medien überall. Kaum eine Redaktion ohne nicht wenigstens einen Redakteur, der auch das mal las, der bei gegenseitigem Outing jene eigentliche Kernfrage aller „Rhodan“-Lektüre fragt „Lebt denn Gucky noch?“

Ja, er lebt noch. Und er wird sicher noch solange leben, wie man, jede Woche aufs Neue, nicht weiß wie’s weitergeht.

Verfasst im September 2015 für ALFONZ. Manuskriptfassung.

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