Was für ein Klopper! Es dürfen Wetten darauf abgeschlossen werden, ob Ulli Lust mit dieser Großtat des Autobio-Comics dieses Jahr sowohl den ICOM-Independent-Preis gewinnt als auch den Max-&-Moritz-Preis des Comicsalon Erlangen.

Ulli Lust
Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens

Die Crux des eigenen Lebens: es hält sich an keine Dramaturgie. Wer seine Autobiografie verfasst, steht oft vor dem Problem, sie in eine Form zu bringen, die das eigene Leben nicht verzerrt, gleichzeitig einen lesbaren, von straff gespannten erzählerischen Bögen getragenen Text mit Spannungshöhepunkten darstellt.

Im Bereich der autobiografischen Comics ist das um so schwieriger, weil diese – anders als literarische Autobiografien – in der Regel von relativ jungen Menschen verfasst werden und selten außergewöhnliche Ereignisse thematisieren, sondern sich stattdessen um normalen Alltag drehen. Vertrau keinem Comiczeichner: von Craig Thompson etwa ist bekannt, dass er um der Dramaturgie willen seine Schwester vollständig aus seiner Erinnerungserzählung „Blankets“ eliminiert hat.

Ulli Lusts „Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens“ paßt in mancher Hinsicht sehr gut neben Thompsons Comic…

… Wie „Blankets“ ist auch dieser ein Klopper von einem Werk, über 450 Seiten dick. Und wie dieser schildert er extreme emotionale Erfahrungen aus der Pubertät. Öfter noch als bei „Blankets“ fragt man sich beim Lesen dieses Buches aber: kann, soll das wirklich alles so geschehen sein?

Lust schildert eine Italienreise unter besonderen Umständen. Als Teenage-Punk, ohne einen Schilling in der Tasche (sie ist Österreicherin), illegal über die Grenze. Der Trip wird zur Tortur, zu Unerfahrenheit, gelegentlichem Hunger und der Angst, aufgegriffen zu werden, kommen beständige sexuelle Übergriffe der Italiener, bis hin zur Vergewaltigung, und Erfahrungen mit der Mafia. Der unaufhaltsame Abstieg wird nur von gelegentlichen Glücksmomenten durchbrochen. (Die verblüffend oft mit Musik zu tun haben: ein Besuch in der Mailänder Scala und ein Konzert von The Clash fungieren hier als positiver Kontrapunkt zur tragischen Erzählung).

Statt klarer Linien benutzt Lust die Unmittelbarkeit des flüchtigen Bleistiftstriches, um ihren Leidensweg zu schildern. Mehr als einmal handelt die Erzählung von dem Wunsch der Protagonistin, unsichtbar zu sein, zu verschwinden. Das flirrende Zittern des dargestellten, die scheinbare Halbfertigkeit der Bilder unterstreicht den emotionalen Zustand der Hauptfigur. Manchmal, in besonders emotionalen Momenten, geht dann der letzte Rest von Kontur verloren: als sie am Strand vergewaltigt wird, löst sich die Bildfolge in monströse mehrseitige Phantasmagorien ohne Begrenzung oder all zu klaren Inhalt auf.

Obwohl sich die Bilder auflösen, bleibt das, was erzählt wird, immer klar. Lusts Erinnerungscomic ist von bestechender Offenheit. Mit der reifen Unverblümtheit des Erwachsenen erzählt sie von ihren Gedanken, Ängsten und Phantasien als Mädchen, radikaler und offener als sonst jemand bisher im deutschen Comic. (Allerdings ist das Sujet auch radikaler, als man es bisher von autobiografischen deutschen Zeichnern gewohnt war.) Wo möglich, untermauert sie ihr damaliges Sein mit Dokumenten: Tagebuchnotizen und Fotos. Ähnlich wie Posy Simmonds in „Tamara Drewe“, wenn auch bei weitem nicht so extrem, löst sie sich damit von der klassischen Struktur des Comic hin zu einer collagenartigen Form der Bilderzählung.

Das ist im Ergebnis von einer inneren Stärke, die die Frage nach der Authentizität obsolet macht. „Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens“ ist als Erzählung nicht nur radikal und tragisch, sondern vor allem stark und – im besten Sinne bei einem Erinnerungsbuch – selbst-bewußt. (stefan pannor)

Avant Verlag, 464 S.; € 29,95

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