Die Aussöhnung mit der Atomenergie ist seit Hiroshima und Nagasaki zentrales Element in der japanischen Kultur. Nur wenige gehen so offen damit um wie Keiji Nakazawa in seinem Auobiografie-Manga „Barfuß durch Hiroshiima“. Die meisten flüchten sich in Trivialmythen.

Er konnte es nicht ahnen. „Hiroshima begann seinen Tag wie jeden anderen“ beginnt Keiji Nakazawa seine Erinnerungen an den Tag des Atombombenabwurfes. Es ist der Morgen des 6. August 1945. Eine Frau fragt den siebenjährigen Knaben, wo er Schule habe. Das rettet ihm das Leben. Aufgehalten im Gespräch, steht er grade hinter einer Mauer, die den Druck der exakt in diesem Moment im Stadtzentrums Hiroshimas detonierten Atombombe von ihm abhält. Einen Meter weiter, an der Mauer vorbei, und er wäre tot gewesen.

Horror der Bombe: ‚Barfuß durch Hiroshima“

Barfuß durch Hiroshima„Hadashi No Gen“ (dt. Titel: „Barfuß durch Hiroshima„) nannte Nakazawa seine ab 1972 erschienenen Erinnerungen an den schicksalhaften Moment – und das Leben danach. Es ist kein Roman, sondern ein Manga, also ein Comic. Das verleiht ihm seine besondere Eindringlichkeit. Über mehrere hundert Seiten schildert Nakazawa den Schrecken nach dem Abwurf der Bombe.

Die Bilder, die er verwendet, erinnern an Horrorfilme: Menschen, die ihre verbrannte Haut hinter sich herschleifen, Gedärme mit den Händen im Leib halten, verstümmelt, erblindet, halbverkohlt sind. Und überall in den Trümmern Leichen.

Der Abwurf der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki durch die amerikanische Luftwaffe stellt die (bisher) größte Zäsur in der modernen japanischen Geschichte dar. Die Aussöhnung mit der Atomenergie und ihren vernichtenden Folgen ist aufgrund dieses Traumas zentrales Element in der japanischen Kultur. In der populären Kultur findet diese Aussöhnung vor allem durch Eskapismus statt. Comics wie die von Nakazawa bleiben die Ausnahme.

Bekanntestes Beispiel ist sicher Godzilla. Der Riesensaurier, der ganze Städte plattwalzt, wird erstmals im gleichnamigen Film (japanischer Originaltitel „Gojira“, 1954) durch Atombombenversuche geweckt und vernichtet daraufhin Tokio. Am Ende sind es Wissenschaftler, nicht Militärs, die Godzilla besiegen. Die Moral ist leicht zu entschlüsseln: die Wissenschaft kann beherrschen, was das Militär nicht kontrollieren kann.

Mit dem Schraubenzieher gegen atomaren Schrecken

Spätestens durch die unzähligen Sequels, in denen das Drachenmonster immer wieder sein Gummihaupt erhob, wurde diese Moral allerdings ad absurdum geführt. Es ist kein Zufall, dass Godzilla, die nichttotzukriegende atomare Metapher, heute inoffizielles Maskottchen Japans ist.

Bereits drei Jahre vor Godzilla, 1951, wurde eine andere Figur in Japan populär, die sinnbildlich für den beinahe hyperoptimistischen Umgang dieser Zeit mit dem Atomtrauma steht. Astro Boy, dessen japanischer Originalname klarer als der für die Vermarktung im Westen erfundene Titel aussagt, worum es wirklich geht: „Tetsuwan Atomu“, Eisenarm Atom. Dahinter steckt ein Roboter mit dem Aussehen eines Knaben, der, angetrieben von extrem effizienten winzigen Atommeilern in seinem Innern, über gewaltige Kräfte verfügt. Er ist die bis heute berühmteste Comicfigur in Japan, im Bekanntheitsgrad ungefähr vergleichbar mit Donald Duck hierzulande.

Astro BoyErfunden wurde die Figur von dem Zeichner Osamu Tezuka. Knapp zehn Jahre älter als Keiji Nakazawa, hatte Tezuka als Arbeiter in einer Asbestfabrik die Bombardierung Osakas mit konventionellen Bomben durch die US-Luftwaffe miterlebt.

In Tezukas Episoden ist es die Technik selbst, die alle Probleme mit der Technik löst: regelmäßig muß sich Astro Boy mit anderen Robotern anlegen, die, selbstverständlich ebenfalls atomar betrieben, Amok laufen oder von Kriminellen für Verbrechen mißbraucht werden. In aller Regel genügen ein paar Faustschläge und ein wenig Arbeit mit dem Schraubenzieher, um jedes Problem zu lösen. Geht doch mal ein Roboter hoch, dann natürlich strahlungsfrei.

Bis in die Mitte der Siebzigerjahre hinein sang Tezuka in „Astro Boy“ in immer neuen Episoden das Hohelied von der Beherrschbarkeit der Technik durch sich selbst und davon, dass sich alle Probleme, auch atomare, mühelos lösen lassen – und zwar durch einen naiven Knaben mit Roboterleib. Danach, sichtlich gereift, wandte er sich ernsteren Stoffen zu und thematisierte u.a. die Kriegsverbrechen der Japaner im II. Weltkrieg.

Atomenergie: Don’t ask, don’t tell

Beide Figuren, Godzilla wie Astro Boy, zeigen die Ambivalenz der japanischen Kultur hinsichtlich der Atomenergie: permanent thematisiert, aber nie klar angesprochen, und häufig trivialisiert.

Die Linie zieht sich bis in den modernen Manga. „Akira“, eine der populärsten modernen japanischen Comicerzählungen, begann 1982 mit der Schilderung einer Atombombenexplosion mitten in Tokio. Im Laufe des weitreichenden Plots, der sich auf über 2.000 Seiten erstreckt,wird Tokio weitere zwei mal zerstört, ehe den Figuren der Erzählung Ruhe gegönnt wird. Die Bombe ist hier eine fast schon abstrakte Bedrohung, um den Action-Plot am Laufen zu halten.

Eine bizarre Verdrehung der Ereignisse erzählt die Anime-Serie „Space-Battleship Yamato“ (1974). Hier ist die ganze Erde atomar verseucht und hat nur noch wenige Tage zu leben. Um ein Mittel gegen die Strahlung aus einem weit entfernten Sternenreich zu holen, wird der von dem Amerikanern versenkte japanische Weltkriegs-Schlachtkreuzer „Yamato“ weltraumtauglich (!) gemacht und auf Fahrt geschickt. (Verblüffenderweise war die revanchistische Serie, in der aufrechte Japaner gegen unschwer als Amerikaner erkennbare Aliens und atomare Bedrohung im All kämpfen, auch in den USA sehr beliebt.)

„Akira“ und „Yamato“ sind populäre Mythen, die immer neues Merchandising und Neuauflagen hervorbringen – „Space-Battleship Yamato“ zuletzt als aufwändiger japanischer Realfilm 2010. Ebenso entstehen bis heute neue „Astro Boy“-Trickfilmepisoden, neue „Godzilla“-Filme und neue „Akira“-Actionfiguren. Auch das ist ein Bestandteil der japanischen Kultur: der Kitzel mit dem Trauma ist äußerst lukrativ.

Nakazawa dagegen beendete seine Hiroshima-Autobiogafie 1983, nach zehn Bänden und 3.000 Seiten, kaum beachtet. Bis 2009 zeichnete er weiter Mangas, ehe die Spätfolgen der Strahlung (u.a. Diabetes und Grauer Star) ihn zum Vorruhestand zwangen.

(Manuskriptfassung. Eine redigierte und gekürzte Fassung erschien auf SPIEGEL-Online.)

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  • One Response to “Der Kitzel mit dem atomaren Trauma”

    1. Stefan Pannor » Blog Archive » Buddha, blutig says:

      […] Der Kitzel mit dem atomaren Trauma […]