Der Mann, der die Graphic Novel erfand, war nicht Will Eisner, sondern Osamu Tezuka. Der Japaner hat in seinem Leben 150.000 Comicseiten gezeichnet und eine Vielzahl anspruchsvoller Comicromane geschaffen. Teil 1 einer kurzen Reihe von Porträts verschiedener Mangazeichner.

Von Alexandre Dumas sagte man zu Lebzeiten, niemand würde alle seine Romane kennen – nicht einmal Dumas selbst. Der französische Schriftsteller („Die drei Musketiere“) hatte als erster Autor seine literarische Produktion auf Fließband umgestellt und diverse Assistenten angeheuert, die seine Texte für ihn verfassten. Unter Dumas‘ Namen erschienen über dreihundert Romane.

Im Vergleich zu Tezukas Gesamtwerk ist das freilich eine überschaubare Menge. 150.000 bis 170.000 Comicseiten soll der Japaner gezeichnet haben – über den genauen Wert sind sich sogar die Experten uneins. Eine Gesamtausgabe seiner Comics brachte es auf 400 dicke Bände.

Nicht nur wegen der schieren Menge an Comics gilt Tezuka (1928 – 1989) in Japan als „Gott des Manga“. Wie kein anderer hat er die Erzählkultur seines Landes nach dem zweiten Weltkrieg geprägt, indem er den Comic hoffähig machte. Auch die Durchsetzung der Animes, der japanischen Trickfilme, ist auf Tezuka und dessen Trickfilmstudio zurückzuführen, das hunderte Filme produzierte. Comic und Trickfilm sind heute zwei der umsatzstärksten Industrien in Japan.

Tezuka war ein Naturtalent. Mit neun zeichnete er erste Bildgeschichten, mit 19 publizierte er sein erstes eigenes Buch. „Die neue Schatzinsel“, eine lose Adaption von Stevensons gleichnamiger Abenteuererzählung in Comicform, bescherte ihm nicht nur Verkaufszahlen beinahe im Millionenbereich, sondern auch Fans, die zu seinem Wohnhaus pilgerten – Tezuka lebte damals noch bei seiner Mutter.

Das inhaltlich naive Buch weiss heute noch durch seine Grafik zu beeindrucken. Tezuka, beeinflusst von den Trickfilmen Walt Disneys und der Fleischer-Studios („Superman“), verwendete einen kinematographischen Stil, der jede Bewegung in unzählige Einzelbilder auflöste und so einen Eindruck ungeheurer Rasanz erweckte. Diese Vorgehensweise wurde typisch für den japanischen Comic.

Ebenso prägte Tezuka das experimentelle der Bildgestaltung der japanischen Comics mit ihren schrägen Linien und verzerrten Comics sowie prägte das Genre des „shojo“-Manga, des Manga allein für Mädchen. Shojo ist heute das zweiterfolgreichste Comicgenre in Japan.

Bis zu zehn Bücher veröffentlichte Tezuka im Jahr. Darunter nicht nur simple Kindergeschichten wie das „Schatzinsel“-Büchlein oder seine Serie um den Roboter „Astro Boy“ (dt. bei Carlsen), die heute Tezukas weltweit bekanntester Titel ist und mehrere Trickverfilmungen sowie zuletzt 2009 eine amerikanische Realverfilmung nach sich zog.

Ab den Siebzigerjahren experimentierte er auch mit ernsteren Stoffen. Fast ein Jahrzehnt, bevor im Westen Will Eisner den Begriff der Graphic Novel etablierte, schuf Tezuka bereits umfangreiche Comicromane wie „Buddha“, ein fast dreitausend Seiten langer Abriss des Lebens des Religionsstifters Siddharta oder „Phoenix“, das waghalsige Projekt der Darstellung der gesamten japanischen Geschichte von der Urzeit bis in die ferne Zukunft.

Zu den ernsteren Stoffen zählen auch „Adolf“ (dt. bei Carlsen), eine zweitausendseitige Erzählung über den Zweiten Weltkrieg, und „Black Jack“, eine fünftausendseitige Erzählung um einen düsteren Mediziner, der seine Patienten durch moralisch fragwürdiges Verhalten dazu zwingt, sich mit ihrer eigenen Gesundheit auseinander zu setzen – ein ferner Vorläufer von „Dr. House“.

Bei letzterem Titel kam Tezuka zu Gute, dass er selbst studierter Mediziner war – Mitte der Fünfzigerjahre hatte er sein Diplom als Doktor gemacht, während er nebenher weiter Comics zeichnete.

Anders als Dumas gab Tezuka die Zügel seiner Erzählungen nie aus der Hand. Rund dreissig Minuten benötigte er für eine fertige Comicseite. In seinem winzigen Arbeits-Appartment in Tokyo, das niemand ausser ihm selbst und seiner Frau betreten durfte, entstanden immer mindestens drei Comicserien gleichzeitig.

In Deutschland fand Tezuka bisher nur wenig Beachtung. Zwei Titel erweitern aktuell den Kanon seiner deutschsprachigen Ausgaben. „Kirihito“, ein Medizin-Thriller um eine Krankheit, die Menschen zu Tieren verwandelt, sowie „Barbara“, eine an Nabokov angelehnte Geschichte um einen alternden Schriftsteller und dessen jugendliche Muse, die für Tezuka ungewohnt drastisch und freizügig in der Darstellung ist.

Auch wenn beide Titel das gesamte Volumen von Tezukas Schaffen nur unzureichend vermitteln, geben sie doch zusammen gelesen einen Eindruck von der ungeheuren Bandbreite des Erzählers.

Osamu Tezuka auf Deutsch:

Die Jugendcomics –
Astro Boy, 21 Bde., Carlsen Comics – je 200 S.; je 5,00 €
Kimba, der weisse Löwe, 2 Bde., Carlsen Comics – je 300 S., Hardcover; je 19,90 €

Die Erwachsenenwerke –
Adolf, 5 Bde., Carlsen Comics – je 200 S.; je 12,00 €
Kirihito, 3 Bde., Carlsen Comics – je 280 S.; je 16,90 €
Barbara, 2 Bde.; Schreiber & Leser – je 200 S.; je 14,95

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  • One Response to “Manga-Portrait (01): Osamu Tezuka”

    1. Stefan Pannor » Blog Archive » Manga-Portrait (02): Keiji Nakazawa says:

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