Alles, nur nicht wegrennen: Keiji Nakazawa überlebte 1945 den Abwurf der Atombombe auf Hiroshima. Später zeichnete er sich das erlebte Grauen als Comic von der Seele. „Barfuß durch Hiroshima“ gilt als Meilenstein des Genres. Jetzt erlag er den Spätfolgen des Abwurfs.

Als Keji Nakazawa 2005, auf seinem einzigen Deutschlandbesuch, gefragt wurde, warum er seine Erinnerungen als Hiroshima-Überlebender in Comicform aufzeichnete, war seine Antwort so simpel wie bedrückend: „Zuerst wollte ich nur noch wegrennen“.

Nakazawa hatte im August 1945 den Abwurf der Atombombe über Hiroshima überlebt – eine Mauer, die den Explosionsdruck und die Hitze abschirmte, rettete ihm das Leben. Da war Nakazawa sechs Jahre alt. Die Hälfte seiner Familie kam durch den Abwurf zu Tode.

Was er danach, in den Trümmern der Stadt, sehen musste, traumatisierte ihn für’s Leben. „Ich wollte diese schrecklichen Bilder loswerden“, führte er im Gespräch seine Erinnerungen weiter aus, „die ich erleben musste, wenn ich etwa immer wieder lebenden Leichen begegnete, aus denen unzählige Maden krochen.“

Es half kein Wegrennen. Die Erinnerung hatte selbsttherapeutische Form. Ab 1973 publizierte Nakazawa seine Memoiren vom Sommer 1945 – die letzten Kriegsmonate, den Bombenabwurf und schließlich jenes schreckliche Danach – als Comic. „Hadashi no Gen“ nannte er es, „Der barfüßige Gen“. Auf deutsch erschien es als „Barfuß durch Hiroshima“.

Als er seine Memoiren begann, war Nakazawa (*14.03. 1939) in Japan ein etablierter, aber nicht sonderlich bekannter Mangazeichner. Er hatte vor allem Sportmanga veröffentlicht, Comics über reale und fiktive Sportler. Zweimal hatte er bereits Anlauf genommen, neben all den Geschichten über Sportheroen sein atomares Trauma zu bewältigen. Beides waren relativ kurze Episoden gewesen.

„Barfuß durch Hiroshima“ wuchs sich dagegen zügig zu einer Erinnerung von epischer Breite aus. Nakazawa hatte Glück: in den frühen Siebzigerjahren hatte eine Generation junger Wilder den japanischen Comicmarkt übernommen. Plötzlich gab es Bedarf an ungewöhnlichen Ideen.

Zwanzig Comicseiten pro Woche publizierte Nakazawa von seinen Memoiren, zuerst in dem auf Jungs ausgerichteten Magazin „Shonen Weekly Jump“. Später, als die Inhalte dem Thema entsprechend drastischer wurden, erschien der Vorabdruck in Magazinen für ältere Leser.

Die Bilder, die Nakazawa verwendete, sind die aus seinen Erinnerungen: Menschen, die ihre verbrannte Haut hinter sich herschleifen, Gedärme mit den Händen im Leib halten, verstümmelt, erblindet, halbverkohlt sind. Und überall in den Trümmern Leichen.

Rund zehn Jahre dauerte es, bis Nakazawa sich das Grauen von der Seele gezeichnet hatte. Knapp 3.000 Seiten umfasste „Barfuß durch Hiroshima“ am Ende. Damit ist es die umfangreichste Biographie in Comicform überhaupt.

Der große Durchbruch gelang Nakazawa in Japan damit nicht. Die Erzählung ist sperrig, von unaussprechlichem Grauen durchzogen. Anerkennung widerfuhr ihm erst ab den Achtzigerjahren auf dem westlichen Comicmarkt. Dort hatte sich ab den Siebzigerjahren eine Tradition der autobiografischen Comics entwickelt, die in Japan bis heute fehlt.

Zeichner wie Art Spiegelman, der grade erst mit großem Erfolg die Auschwitz-Erinnerungen seines Vaters als Comic verarbeitet hatte („Maus“) huldigten Nakazawa. Insbesondere seine intuitive, mitunter fast naive Form der Erzählweise fand Anklang.

1982 erschien ein Auszug aus „Barfuß durch Hiroshima“ in deutscher Übersetzung bei Rowohlt. Es war der erste Manga in deutscher Sprache überhaupt. Allerdings dauerte es bis 2004, ehe in insgesamt vier Bänden immerhin der Kern von Nakazawas Erinnerungen bei Carlsen erschienen. Der Rest, immerhin sechs weitere Bände, liegt neben dem Original nur in französischer und englischer Sprache vor.

Zeitlebens blieb Nakazawa nicht nur ein Gegner der atomaren Aufrüstung, sondern auch der Atomenergie. „Die Kraftwerke müssen abgeschaltet werden“, sagte er nach der Fukushima-Katastrophe. Für die New York Times fertigte er aus diesem Anlass eine exklusive Illustration an, die ein letztes Mal seine atomare Angst in einem bedrückenden Bild zusammenfasste.

Bis 2009 zeichnete Nakazawa weiter Mangas, ehe die Spätfolgen der Strahlung – unter anderem Diabetes und Grauer Star – ihn zum Vorruhestand zwangen. 2010 wurde bei ihm Lungenkrebs diagnostiziert, dem er am 19.12. erlag.


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