Da war doch noch was. Mindestens vierundzwanzig Texte, die schon längst in diesem Blog stehen sollten, aus diesem oder jenem Grund aber nicht hier landeten. Als kleiner Weihnachtskalender finden sie jetzt Verwendung. Heute: David Mazzuchellis Großwerk „Asterios Polyp“.

In der Regel wird Graphic Novel nur als Möglichkeit verstanden, längere Geschichten zu erzählen. Die wenigsten Graphic-Novel-Zeichner erkunden tatsächlich die Möglichkeiten, die sich aus dem vergrößerten Platz ergeben. „Asterios Polyp“ ist eine Ausnahme von der Regel.

Der Plot des Buches ist klein: dem in der Praxis erfolglosen, für seine unbaubaren Entwürfe gerühmten Architekten Asterios Polyp brennt das Appartement ab. Mit wenig mehr als der Kleidung am Leib macht er sich auf ins amerikanische Hinterland und heuert als Automechaniker an.

Dieser „fall from grace“, der Abfall vom Glauben, die Entwicklung vom Millionär zum Tellerwäscher, ist natürlich reizvoll, aber mit Fallstricken ausgelegt. Wird Asterios die Freuden des einfachen Kleinstadtlebens entdecken und dem Charme der esoterischen Landpomeranze verfallen, die ihn beherbergt?

Soviel kann wohl verraten werden: wird er nicht. Denn so einfach, klischeeverhaftet macht es sich Mazzuchelli nicht. Einzelne Kritiker haben dem bereits vor über zwei Jahren in den USA erschienenen Buch daher eine gewisse Unterkühltheit attestiert.

Tatsächlich aber bleibt Mazzuchelli einfach seiner Figur treu: einem New Yorker Architekten, der die Welt am liebsten auf dem Reissbrett abzirkeln möchte. Banale Auflösungen passen nicht zu dieser Figur.

Wie aber füllt Mazzuchelli beinahe 400 Seiten mit einem so simplen Plot? Indem er seine Figur erkundet, und zwar mit den Mitteln des Grafikers. Frühzeitig im Buch splittet er die Erzählung in drei Ebenen auf: die Odyssee des Polyp, seine Vergangenheit und eine beide Erzählstränge reflektierende Ebene.

Jede der Ebenen ist durch eine der drei Grundfarben gekennzeichnet: rot, gelb und blau. Das Zusammenspiel der Farben ergibt Informationen nicht nur darüber, auf welcher Handlungsebene man ist, sondern auch über das Empfinden der Figuren.

Schon in seiner vorherigen Graphic Novel „Stadt aus Glas“ hatte Mazzuchelli belegt, dass es ihm beim Comic vor allem darum geht, die Formensprache des Mediums zu erweitern.

Aus Paul Austers stark verinnerlichtem Kurzroman, der wenig Ansätze zur Visualisierung bildet, machte Mazzuchelli einen zitat- und stilreichen Comicroman, der die knappe Prosa der Vorlage in harte, kontrastreiche Bilder und visuelle Verwirrspiele umsetzt, ohne dabei je den Faden zu verlieren.

Auch „Asterios Polyp“, der die folgerichtige Weiterentwicklung von „Stadt aus Glas“ ist, wirkt nur vordergründig kompliziert. Obwohl Mazzuchelli in diesem Buch neben den Farben noch mit einer Vielzahl weiterer grafischer Tricks arbeitet, die er häufig aus dem Bereich der Geometrie und Architektur entlehnt, stört keine von ihnen das Verfolgen der Handlung.

Es ist kein Wunder, dass Mazzuchelli Jahre für dieses Buch gebraucht hat. In „Asterios Polyp“ ist jede Seite durchdacht, ohne dass Mazzuchelli nie das große Ganze aus den Augen verliert.

Hinter der vorgeblichen Einfachheit der Erzählung steckt das komplexe Psychogramm eines Gescheiterten, das wiederum von Mazzuchelli mit extremer, unglaublich leichter Eleganz dargeboten wird. (Nebenbei sollte auch die Übersetzung des Buches gelobt werden, die zu den besten gehört, die mir im vergangenen Jahr untergekommen sind.)

Infolgedessen ist Mazuchelli im besten Sinne ein grafischer Erzähler, also einer, der wirklich mit den Mitteln der Grafik erzählt, statt wie viele andere eine Geschichte nur zu illustrieren. „Asterios Polyp“ ist ein meisterliches Buch, das zeigt, dass selbst ein simpler Plot in den Händen des richtigen Erzählers zu einer großen, komplexen und mitreissenden Erzählung werden kann.

Eichborn, 344 S.; € 29,95

Der Rest vorm Fest:

01 – Israel verstehen in 60 Tagen oder weniger
02 – King Aroo
03 – Comic Noir
04 – Habibi
05 – House of Mystery
06 – Alan Moores Neonomicon
07 – The Unwritten
08 – Frostfeuer
09 – Zahra’s Paradise
10 – Spirou
11 – Johann & Pfiffikus
12 – Kimba vs. Gon
13 – Asja Wiegand & Ulf Salzmann
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