Da war doch noch was. Mindestens vierundzwanzig Texte, die schon längst in diesem Blog stehen sollten, aus diesem oder jenem Grund aber nicht hier landeten. Als kleiner Weihnachtskalender finden sie jetzt Verwendung. Heute: Guy Delisles Aufzeichnungen aus Jerusalem.

Guy Delisle hat Comictagebücher über Nordkorea, China und Burma veröffentlicht. Sein jüngstes Buch „Aufzeichnungen aus Jerusalem“ handelt erstmals nicht von einer Diktatur. Unglück im Glück: genau in seine Anwesenheit fällt einer der massivsten Millitärschläge der jüngeren Geschichte Israels.

Am 27. Dezember 2008 griffen die israelischen Luftstreitkräfte Einrichtungen der Hamas im Gazastreifen an. Dieser und die Angriffe der folgenden drei Wochen gingen als „Operation Gegossenes Blei“ in die Militärgeschichte der umkämpften Region ein.

Es war genau die Zeit, als der Comiczeichner Guy Delisle in Israel war. Delisle war zuvor bekannt geworden durch seine gezeichneten Reisetagebücher aus Nordkorea, China und Burma. Als er nun das Angebot erhält, zusammen mit anderen Journalisten die Attacken mit eigenen Augen beobachten zu können, sagt er erst zu. Und dann wieder ab. Aus Angst.

Laut eigener Aussage sieht sich Guy Delisle nicht als Journalist. Man sollte sich also hüten, seine Comics als gezeichnete Reportagen zu sehen. Delisle recherchiert nicht, er schildert direkt, was er sieht. Im besten Fall, seinem Buch „Pyöngyang“, entstehen so Schilderungen einer sich schon bei oberflächlicher Betrachtung selbst dekonstruierenden Diktatur.

Im schlechtesten Fall, seinen „Aufzeichnungen aus Birma“, kann es schon mal seitenlang darum gehen, wie Delisle weder etwas gesehen noch erlebt noch zu berichten hat. Ersteres Buch ist erhellend, zweiteres verschleiert die Umstände eher.

„Aufzeichnungen aus Jerusalem“ öffnet eine neue Kategorie in Delisles Schaffen. Erstmals erzählt er nicht über eine Diktatur. Von August 2008 bis Juli 2009 war er in Jerusalem. Die „Operation Gegossenes Blei“ fällt genau in die Mitte dieses Aufenthaltes. Dementsprechend fällt auch das Buch in zwei Teile.

In der ersten Hälfte schildert Delisle, meist ironisch, israelische Alltagsumstände und seine eigene Fremdheit im Land. Mit den Dezemberereignissen wird der Tonfall dunkler.

Delisle rückt deutlich stärker das überall präsente Militär ins Bild. Statt launischer Anekdoten über die allgegenwärtige Bürokratie schildert er, wie Militärs ihn am Zeichnen selbst harmloser Anlagen hindern.

Natürlich wäre es schön gewesen, wäre er darüber hinaus auch zum Augenzeugen der Kriegshandlungen geworden. Menschlich ist verständlich, dass er – Familienvater mit zwei Kindern – sich verweigert hat.

Das ist letztlich die Leistung des Buches: der permanente Blickwinkel aus dem Alltag heraus. Delisle arbeitet mit Einfühlungsvermögen statt politischer Analyse. Freimütig schildert er seine Verwirrung über die komplexen politischen Umstände des Nahen Ostens, an deren Brennpunkt er sitzt.

Das Ergebnis ist einn – man traut sich kaum, es zu sagen – amüsantes, aber auch die Diskussion um Israel um einen wichtigen Beitrag erweiterndes Buch.

Reprodukt, 340 S.; € 29,00

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    One Response to “Der Rest vorm Fest (16): „Jerusalem“ von Guy Delisle”

    1. Stefan Pannor » Blog Archive » Der Rest vorm Fest (20): 2 x Isabel Kreitz says:

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